Luxemburgensia

Schülerzeitungen von oben und von unten

d'Lëtzebuerger Land du 03.01.2020

Mit der Enzyklika Rerum Novarum rief Papst Leo XIII. 1892 seine Kirche zur Rückeroberung der Liberalismus und Sozialismus verfallenden Gesellschaft auf. Pflichtbewusst organisierte der hiesige Klerus in seinem Volkshaus ein ganzes Arsenal von Laienverbänden für jede Klasse, jedes Alter und jedes Geschlecht, bis hin zur „Volkshauspartei“, der Rechtspartei und heutigen CSV. So entstand 1909 im hauptstädtischen Konvikt der Studienzirkel katholischer Mittelschüler. Seinen mit literarischen Beiträgen angereicherten Jahresbericht nennt der Geschichtslehrer Marc Birchen in dem Buch Schülerzeitungen im Spiegel der Zeit die „Frühform einer Schülerzeitung“ (S. 26).

Gewollt oder ungewollt drückten Schülerzeitungen immer aus, wie Schüler und später Schülerinnen im Laufe der Geschichte die Schule als gesellschaftliche Einrichtungen empfanden: als Mittel zur sozialen Unterscheidung durch die Trennung von Bildung und Ausbildung, als „ideologischer Staatsapparat“ zur Gängelung der Jugend oder als „Investition“, um später im Wettkampf auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. Es gab und gibt Schülerzeitungen von oben, von Verbänden, Schulen oder Freinet-Lehrern, und solche von unten als Organe einer Autonomiebestrebung von Jugendlichen. Mehrmals kam es zu polizeilichen Ermittlungen, Unterdrückungsversuchen durch Schulleitungen und sogar parlamentarischen Initiativen gegen Schülerzeitungen, denen die in der Verfassung garantierte Pressefreiheit selten zugestanden wurde.

Immer wieder waren Schülerzeitungen Teile des endlosen Kulturkampfs zwischen Klerikalen und Liberalen. Der katholische Akademikerverein, später Aluc, brachte ab 1916 regelmäßig die Academia heraus, während die 1912 gegründete liberale Adel, später Assoss, ab 1917 La Voix des jeunes veröffentlichte. Sie waren eher Studentenzeitungen, aber in einem Land, wo Sekundarlehrer bis heute „Professoren“ und ihre Schüler lange „Studenten“ genannt wurden, sind die Grenzen fließend.

Der spätere Staatsminister Pierre Frieden und der spätere Nazi Damien Kratzenberg riefen als Diekircher Gymnasiallehrer 1922 die Schülerzeitung Le Collégien als pädagogisches Projekt ins Leben, doch, so Marc Birchen, „[r]eine Schülerzeitungen, also hauptsächlich von Schülern für Schüler verfasste Zeitungen, waren bis in die 1930er Jahre eine Seltenheit“ (S. 31). Dazu zählte der erstmals Forderungen im Namen der Schüler erhebende Sprochmates der hauptstädtischen Industrie- und Handelsschule und der antisemitische De Wecker rabbelt des späteren CSV-Abgeordneten Georges Margue. Reaktionäre Jugendschriften wie Jung-Luxemburg und Marienritter, denen damals keine dezidiert linken Blätter gegenüberstanden, waren keine erklärten Schülerzeitungen, aber sie richteten sich an die Altersgruppe der Gymnasiasten. Marc Birchen nennt die Dreißigerjahre, als sich nach der Weltwirtschaftskrise und angesichts der wachsenden autoritären Bedrohung bis hin zum Maulkorbgesetz die politische Auseinandersetzung radikalisierte, einen ersten Höhepunkt in der von ihm untersuchten Geschichte der Schülerzeitungen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand „eine Vielzahl kleinerer Schülerzeitungen, die häufig das Produkt einer einzelnen Schulklasse oder einer Jahrgangsstufe waren“ (S. 60), sie kommentierten das Geschehen an der eigenen Schule humorvoll und unpolitisch. So wie der Zugang zum Sekundarunterricht geregelt war und teilweise noch ist, spiegelten die Schülerzeitungen lange das Weltbild von Knaben aus dem Bürgertum wider. Von 1949 bis 1952 erschien am Lycée de jeunes filles de Luxembourg wohl die erste Schülerinnenzeitung, La Lycéenne.

Nach einem Niedergang gegen Ende der Fünfzigerjahre erlebte die Schülerpresse in den Sechzigerjahren einen zweiten historischen Höhepunkt, als die Notwendigkeit einer Bildungsreform und der obligatorische Militärdienst, der Vietnamkrieg und die Studentenproteste die Jugendlichen politisierten. Dies führte zu einer Radikalisierung und zur Spaltung von Studentenorganisationen, „bis keine andere luxemburgische Schülerzeitung des 20. Jahrhundert einen ähnlichen Bekanntheitsgrad erreichte wie die RWM“, die D’Ro’d Wullmaus des linksradikal gewordenen Clan des jeunes (S. 100). Die respektlosen und pornografischen Beiträge der zwischen 1970 und 1973 erschienenen hektografierten Zeitschrift stellten alles in den Schatten, was Schülerherzen bis dahin hatte schneller schlagen lassen.

Danach wurde die Schülerpresse rasch wieder artig. Im Geist der Zeit entdeckte sie den Natur- und Umweltschutz. Die heutigen Schülerzeitungen sind meist pädagogische Projekte samt Web-Seite im Rahmen der staatsbürgerlichen Medienerziehung. So geht es mit der Schülerpresse, wie mit einem Großteil der restlichen Presse, bergab. Die Adressaten kommunizieren inzwischen über Snapchat und Whatsapp.

Marc Birchen, Schülerzeitungen im Spiegel der Zeit, Fondation Lydie Schmit, Luxemburg, 2018, 208 S., 30 Euro.

Romain Hilgert
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