Während Etienne Schneider Brainstormings über eine zwanglosere Gesundheitsversorgung zulässt, sorgt das in der LSAP für Flügelkämpfe. Ihnen muss sich nun Paulette Lenert widmen

Schöne neue Gesundheitswelt

« Der Luxemburger Gesundheitsminister Etienne Schneider (2.v.r.) mit Georges Mischo (r), Verwaltungsratspräsident des Centre hos
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 10.01.2020

Da war Etienne Schneider nochmal, nachdem er am 23. Dezember erklärt hatte, am 4. Februar sei für ihn Schluss in der Regierung. Gut gelaunt und wie so oft mit dieser gewissen Spur Süffisanz schüttelte er am Dienstagnachmittag im dritten Stock des Escher Stadtkrankenhauses Hände, sprach Neujahrswünsche und weihte dann den neuen Kernspintomografen für das Centre hospitalier Emile Mayrisch (Chem) ein. Den dritten jener vier IRM-Apparate, die zusätzlich anzuschaffen noch die vorige Regierung beschlossen hatte. „Den vierten einzuweihen, schaffe ich ja nicht mehr“, meinte Schneider grinsend. Denn der soll im März ans Ettelbrücker Krankenhaus geliefert werden, wenn der Gesundheitsminister bereits sein Leben zurückhaben wird.

Dass seine Mitgliedschaft in der Regierung sich dem Ende zuneigt, hielt ihn aber nicht davon ab, am Dienstag in Esch ein paar politische Aussagen zu tätigen. Vielleicht tätigte er sie auch gerade deshalb. Zum Beispiel sagte er, dass „wir eine gewisse Öffnung für Arztpraxen machen“ müssen, womit er den Einsatz von IRM auch außerhalb von Spitälern meinte. Dafür müsse „schnellstmöglich ein Plan“ her. „Die Patienten erwarten das.“

So ähnlich hatte er sich gleich nach seinem Amtsantritt geäußert, als er dem Ärzteverband, dem Krankenhausverband und der CNS schrieb, er „envisage de ne plus réserver l’usage de certains équipements d’imagerie médicale au seul secteur hospitalier, et d’autoriser les médecins concernés a en acquérir dans le cadre de l’exercice de leur profession“. Damit ging er weiter als der Koalitionsvertrag, in dem lediglich steht, über die Freigabe auch für Arztpraxen werde „nachgedacht“. Heute ist besonders interessant, dass sein Parteikollege und Namensvetter im Sozialministerium das offenbar anders sieht – und es öffentlich sagt: Im RTL Radio erklärte der für die Krankenversicherung zuständige Romain Schneider am 21. Dezember, die schwere Technik solle auch weiterhin Spitälern vorbehalten bleiben, könne aber über Land in Krankenhaus-Antennen verteilt werden, „zum Beispiel in Wiltz, Düdelingen oder im Osten“. Das war nicht nur ein politisches Bekenntnis, wie es vom Sozialminister Seltenheitswert hat. Es war obendrein eine Einmischung in ein fremdes Ressort, wie er sie sich noch seltener erlaubt. Doch LSAP-intern finden zur Schnittmenge von Gesundheits- und Sozialversicherungspolitik Flügelkämpfe zwischen OGBL-nahen und liberaleren Sozialisten statt. Erstere wollen, dass sich möglichst wenig ändert. Letztere können sich durchaus vorstellen, dass sich so manches ändert.

Denn mit „Krankenhaus-Antennen“, „Arztpraxen“ und was dort angeboten werden könnte, sind nicht nur IRM-Apparate und CT-Scanner gemeint, deren Einsatz eine 26 Jahre alte großherzogliche Verordnung nach wie vor auf Spitäler beschränkt. Und die mit dem Gesetz über die Ausübung des Arztberufs derart schludrig verknüpft ist, dass Insider nicht überrascht waren, als das Verfassungsgericht vor sechs Monaten fand, diese Kombination sei eine verfassungswidrige Einschränkung der Berufsausübung freiberuflicher Radiologen. Über IRM und CT-Scanner hinaus geht es um das vom Ärzteverband AMMD im Wahlkampf 2018 mit Erfolg gesetzte Thema: Wegen der in ganz Europa wachsenden Ärzteknappheit müsse das Luxemburger System „attraktiver“ gemacht werden. Unter anderem durch „Dezentralisierung“ von Teilen der Versorgung heraus aus den Spitälern und hinein in ärztliche Gemeinschaftspraxen.

Dabei stört die Verordnung von 1993. Denn sie limitiert nicht nur den Einsatz schwerer Radiologie-Technik, sondern von insgesamt 21 Apparaten und Verfahren. Schlaflabors zum Beispiel lässt sie nur an Spitälern zu, Neurologen würden so etwas aber gerne ambulant anbieten. Vollnarkosen sind gleichfalls nur in Krankenhäusern erlaubt; Anästhesisten möchten sie jedoch auch außerhalb verabreichen dürfen, so dass Chirurgen leichtere Operationen in Gemeinschaftspraxen vornehmen könnten. Seit am 9. Dezember das Verwaltungsgericht den Spruch der Verfassungsrichter ein erstes Mal anwandte und eine Entscheidung der damaligen LSAP-Gesundheitsministerin Lydia Mutsch annullierte, die 2017 den Kauf eines CT-Scanners für eine Radiologenpraxis untersagte, ist die Verordnung zwar noch immer in Kraft, aber schwerlich durchsetzbar. Was künftig gelten soll? Theoretisch hätte Etienne Schneider gegen das Verwaltungsgerichtsurteil Berufung einlegen können. In der Zwischenzeit hätte er die Beschränkung Copy/Paste aus der Verordnung ins Gesetz verlagern und die Koalitionsmehrheit bemühen können, um die Änderung durchs Parlament zu bugsieren. Doch das wäre riskant gewesen, da Schneider sich schon ein Jahr vorher politisch auf etwas anderes festgelegt hatte. Und da er sowieso gehen wird, betrifft die Frage seine Nachfolgerin Paulette Lenert. Sie lehnte ab, auch als Juristin und frühere Vizepräsidentin des Verwaltungsgerichts. So dass Etienne Schneider am Dienstag in Esch auch für sie sprach, als er erklärte, gegen den Richterspruch vom Dezember in Berufung zu gehen, sei „intellektuell nicht vertretbar“.

Politisch vertreten werden muss nun, wie die Versorgung künftig aussehen soll. Abgesehen von dem Veränderungswillen, den Schneider demonstriert, als gehe es um eine neue Hightech-Branche, gibt es noch keinen Plan dafür. Schneider hat sich eine Studie über den zu erwartenden Ärzte- und Paramediziner-Mangel schreiben lassen. Inwiefern es regionale Ungleichgewichte in der Versorgung gibt und Patienten neue Angebote benötigen, ist unbekannt. Ob sich darauf evidenzbasierte Politik gründen lassen wird, ist eine berechtigte Frage.

Auch deshalb schlagen innerhalb der LSAP die Wellen immer wieder hoch, und Paulette Lenert wird darauf Antworten finden müssen. Wie hoch die Wellen schlagen können, zeigte sich am 6. Dezember im Escher Gemeinderat. Dort beschuldigte die LSAP-Rätin Vera Spautz, Parteilinke und als ehemalige Escher Bürgermeisterin noch immer Mitglied im Verwaltungsrat des Chem-Klinikums, dessen Generaldirektor Hansjörg Reimer, „die Auslagerung medizinischer Aktivitäten aus dem öffentlichen Dienst möglich machen zu wollen“ und „Extremisten“ aus der AMMD nachzugeben. Brainstormings in Chem-Direktion und Verwaltungsrat hatten sondiert, wie eine Verbindung zwischen Krankenhaus und Gemeinschaftspraxen aussehen könnte. Public-private-partnerships könnten das womöglich sein, so die Überlegung. Patienten würden entweder in der Praxis oder im Spital betreut. Die Ärzte würden die Praxen als Personalgesellschaften gründen, behielten aber einen Dienstleistervertrag mit dem Spital, der sie unter anderem verpflichten würde, an Bereitschaftsdiensten teilzunehmen. Die enge Verbindung zwischen Gemeinschaftspraxen und Spital könne unter anderem dafür sorgen, dass kein Markt entsteht, den agile und kapitalkräftige Anbieter aus dem Ausland für sich entdecken und die Luxemburger Akteure an die Wand spielen. „Die Verbindung von Krankenhaus und Ärzten an der Peripherie müssen wir hinkriegen“, sagte Reimer am Dienstag. Der Gesundheitsminister stand neben ihm und sagte nicht, dass damit aber „Antennen“ gemeint sein müssten.

Etienne Schneiders Permissivität hat erlaubt, dass solche Überlegungen überhaupt angestellt werden. Noch sind sie längst nicht ausgegoren, und der Unterschied zwischen „Antenne“ und „Praxis“ noch nicht klar. Doch die politischen Minenfelder sind ausgedehnter als allein die Frage nach Strukturen suggeriert. Der OGBL und ihm nahestehende Sozialisten sehen bei „Dezentralisierung“ einen Angriff auf das parastaatliche Statut des nicht-ärztlichen Klinikpersonals kommen. Wenn heute in Arztpraxen technisch etwas am Patienten geleistet wird und das nicht der Arzt vornimmt, dann macht es schließlich keine Fachkraft, die unter den Krankenhaus-Kollektivvertrag fällt. Elektroden für ein EKG oder ein EEG legt die Arzt-Sekretärin an.

Und dann ist da noch die Frage, wer für die neu ausgerichtete Versorgung was bezahlt. Die AMMD schrieb Mitte Dezember in einem erbosten Brief an den Escher Gemeinderat auf Vera Spautz’ Behauptungen hin, es gehe ihr nicht um eine „médecine centrée sur le profit“. Doch Etienne Schneider lag kaum falsch, als er am Dienstag meinte, „ein System, das für die Ärzte, die anderen Berufe und für die Patienten attraktiver wird“, werde „ein bisschen teurer als heute“. Denn die starke Krankenhaus-Zentrierung in Luxemburg dient auch der Kostenkontrolle. Dass Dezentralisierung Geld spart, bleibt noch zu zeigen. Doch wenn Schneider der Meinung ist, „das müssen wir dann eben bezahlen“, fragt sich, wer was und wie viel davon zu tragen bekäme. Bisher bietet die Krankenversicherung hierzulande den Patienten, abgesehen von Zahnersatz und Brillen, den höchsten Kostenerstattungsgrad durch eine öffentliche Kasse im OECD-Vergleich, und das bei niedrigen Beiträgen. Was die Leute daran gewöhnt hat, dass es immer mehr gibt. Wie das in Zukunft sein soll, ist die wichtigste Botschaft, die die LSAP vermitteln muss. Darin steckt das größte Risiko für sie.

Noch hat die Partei diese Botschaft nicht. Nur das von Etienne Schneider wie ein Mantra immer wieder vorgetragenene „In einem reichen Land wie Luxemburg kann es doch nicht sein, dass ...“ Beim Ehrenwein am Dienstag in Esch mit dem Gesundheitsminister auf Abruf wurde immer wieder in den Raum gesprochen, für eine raschere und reibungslosere Versorgung müssten die Leute auch mehr zu bezahlen bereit sein.

Peter Feist
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