Biltgen, Raoul: Und danke für den Apfel

Eva, Wilhelm, Isaac, Steve

d'Lëtzebuerger Land vom 02.05.2014

Uferlos wirkende Materialfüllen lassen sich mit Hilfe von zwei Eigenschaften bewältigen: dem Mut zu drastischen Kürzungen und der Fähigkeit, Leitfäden und Muster zu erkennen, die Großes und Komplexes verständlich machen. Raoul Biltgen, der in Wien lebende Schauspieler, Autor, angehende Psychotherapeut und so weiter (also auch in der Berufswahl eine Bewältigung uferlos scheinender Möglichkeiten1) verfügt offensichtlich über beide. 2011 brachte er Die Geschichte der Menschheit in 90 Minuten auf die Bühne; jetzt gibt es diese Geschichte im Zeitraffer unter dem Titel Und danke für den Apfel auf knapp hundertfünfzig Seiten zusammengefasst als Buch. In kurzen und kürzesten Kapiteln lässt Biltgen prominente Geschichtsträger in Momenten auftreten, in denen sie sich für ihre spätere Aufnahme in die Geschichtsbücher qualifiziert haben.

Dabei handelt es sich natürlich um ein völlig absurdes, auf kurzweilige Unterhaltung angelegtes Vorhaben, das sich keine Albernheit zu verkneifen braucht. So schlägt der unzufriedene Käufer der Mona Lisa Da Vinci vor, eine Hand vor den Mund seiner Frau zu malen, um dieses merkwürdige Lächeln zu kaschieren. Marie Curie macht sich derweil Sorgen über ihre von starkem Haarausfall bedrohte Frisur. Kleopatra verschiebt wichtige Entscheidungen auf das nächste Frühstück, Maria versucht, Pontius Pilatus mit Hilfe von Keksen günstig zu stimmen, und Beethoven stammelt einen flachen Kalauer. Schlegel, Edison und Hindenburg erzählen den gleichen müden Witz mit abgeänderter Pointe. Die Selbstauskünfte und Dialogschnipsel behalten dabei ihren Bühnencharakter; Wiederholungen, Verkürzungen und Stilbrüche stellen einen engen Bezug des Textes zum gesprochenen Wort her. Zwar wirkt die Dringlichkeit, mit der sich die Figuren an ihre Zuhörer (und damit an den Leser) wenden, stellenweise etwas ermüdend, die Texte bewahren durch diesen geschwätzigen Stil aber die Lebhaftigkeit des Theaters. Auch entwickeln die Figuren ihre Identität erst beim Sprechen, so dass sich die Kapitel wie kleine historische Rätsel lesen lassen, die der Autor mit kurzen Hinweisen zum Hintergrund auflöst. Dass die Geschichte der Menschheit für ihr Fortkommen auf Äpfel angewiesen sein soll, erscheint am Ende sogar einigermaßen plausibel. So weit, so witzig.

Leider belässt es Raoul Biltgen nicht bei seiner ziemlich wilden Zusammenstückelung der Jahrtausende, sondern tut etwas, was Autoren wie Veranlasser größenwahnsinniger Projekte besser unterlassen, weil sie sich dabei nahezu unweigerlich verzetteln: Er erklärt sein Vorhaben. Dabei arbeitet er nicht nur mit überzogenen Vorurteilen (die meisten Schüler finden Geschichte langweilig, was Museen vermitteln, bleibt letztlich „graue Theorie“, „wir“ verstehen Geschichte „nur mehr als Aufzählung von Daten und Fakten“ und so weiter), sondern legt sich auch unnötiger Weise auf ein eigenes, reichlich naives Verständnis von Geschichte fest. Dabei bedient er sich der Metapher, dass es irgendwie „hinter“ der Geschichte, wie „wir“ sie kennen, eine weitere, irgendwie menschlichere Geschichte gebe, an der er sich orientieren wolle. Zum höheren Zweck des literarischen Klamauks darf man natürlich vergessen, dass es – um es mit dem ollen Martin aus Feldkirch zu sagen – einen Unterschied zwischen Historie und Geschichte gibt, also einen Unterschied zwischen dem, was tatsächlich passiert ist, und dem, was wir darüber wissen und erfahren können. Zu behaupten aber, man komme der menschlichen Seite eines Arminius, Brutus oder Ötzi näher, indem man sie nach dem Motto: „Keine Helden, keine Herrscher, keine Genies und keine Philosophen. Sie waren Menschen“ (S. 10) auf kleinliche Egoisten, Wichtigtuer und Schwätzer herunterbricht, scheint doch etwas gewagt. Mehr noch: Aus der ironischen Auslotung dieses Kontrasts ergibt sich überhaupt erst der Witz des Buches; es lebt davon, dass es verdeckt, statt zu enthüllen, nicht umgekehrt. Wenn die Gebrüder Grimm keine gewissenhaften Forscher gewesen wären, wäre es nicht lustig, sie stammelnd und schludernd ein Märchen zusammenbasteln zu lassen.

Nur eine Vorentscheidung kommentiert der Autor nicht: Weil für ihn Geschichte „Geschichten“ sind und weil er die „Menschen hinter den Zahlen“ (S. 9) sichtbar machen will, verwischt Biltgen wie selbstverständlich die Grenzen zwischen Mythos und Historie: Die biblische Eva kommt daher genauso zum Zug wie Eva Braun, und Paris hat eine mindestens so schicksalsträchtige Begegnung mit einem Apfel wie Wilhelm Tell, Isaac Newton oder Steve Jobs. Eine lustige Pointe immerhin, dass sich „hinter“ der Geschichte sowohl Menschen verbergen als auch Gespenster.

1 So nachzulesen auf raoulbiltgen.com.Raoul Biltgen: Und danke für den Apfel. Eine kurze Geschichte der Menschheit. 159 S. Amalthea Signum Verlag, Wien 2014. ISBN 978-3-85002-860-8; ca. 15 Euro.
Elise Schmit
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