Die fehlende Freiheit der Eltern

Der Preis des Wachstums

d'Lëtzebuerger Land vom 14.02.2020

Wer an einer Schule tätig ist, fragt sich des Öfteren, wie sich die gesellschaftlichen Zustände des Landes entwickeln werden. Viele Kinder und Jugendliche verfügen nämlich nicht über eine ausreichende Sprachkompetenz im Umgang mit sich und anderen. Empathie, Mitgefühl oder Rücksichtnahme sucht man zum Teil vergebens. Stattdessen walten oft Rohheit, verbale oder gar körperliche Gewalt und mangelnde Leistungsbereitschaft. Unterstützt werden die Heranwachsenden von einem System, das vor allem im ESG fast keine Leistung erfordert, um die mittlere Reife zu erreichen. Hinzu kommt die Pubertät, die die schulische Leistung auf der Prioritätenliste ganz nach hinten schiebt.

Diese Kinder und Jugendlichen sollen die Zukunft des Landes gewährleisten, das künftige wirtschaftliche Wachstum sichern. Dabei sind sie Opfer eben dieses Wachstums. Sie haben häufig kaum eine Beziehung zu ihren Eltern, da sie den Großteil des Tages in einer Crèche oder Maison relais verbracht haben, wo sie zwar betreut und aufbewahrt, aber nicht ihren angeborenen Fähigkeiten entsprechend individuell gefördert wurden. Der Grund: Gewinnorientierung und unzureichender Personalschlüssel. Auch die Crèche ist ein Wirtschaftsmodell; sie zu unterhalten, muss sich für den Betreiber lohnen. Lohnen im pekuniären Sinne, nicht im Sinne der Entwicklung der Kinder. Die Intelligenz vieler Kinder liegt in den bedeutsamen ersten drei Jahren oft brach, da keiner wirklich Zeit hat, sich mit ihnen zu beschäftigen, ihre Gefühle zu spiegeln und zu benennen, mit ihnen zu singen, zu reden, ihnen Geschichten zu erzählen, ihr sich entwickelndes Gehirn angemessen zu stimulieren. Die Kinder und später auch die Wirtschaft können also ihr angeborenes Potenzial nicht in seiner Gänze nutzen.

Kann man daraus den Eltern einen Vorwurf machen, die ihre Kinder früh in eine Betreuungsanstalt geben? Nein – kann man nicht. Ebenso wenig kann man die Kinder dafür zur Verantwortung ziehen, dass es ihnen an sozialen Kompetenzen, Einsicht in die eigene Gefühlswelt oder gar intellektuellen Fähigkeiten mangelt. Die Eltern stehen unter einem hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Druck: Wohnen und Leben in Luxemburg sind teuer. Für diejenigen, die wenig verdienen, bleibt durch hohe Wohn- und Lebenskosten am Ende des Monats kaum etwas übrig. Doch auch die Gut- und Bessersituierten stehen unter finanziellem Druck: Soll das gesellschaftliche Ansehen nicht leiden, so müssen SUV, Ski-, Oster- und Sommerurlaub auch finanziert werden. Der Lebensstandard baut nicht auf Verzicht auf, sondern auf Konsum.

Dieser Konsum geschieht scheinbar zum Wohl der Kinder, die materiell kaum auf etwas verzichten müssen. Sogar die Jugendlichen aus Haushalten von Geringverdienern verfügen meist über Statussymbole wie Smartphones oder Sneakers einer bestimmten Marke. Was die Jugendlichen verbindet, ist, dass sie häufig auf gerade das verzichten müssen, was am Wichtigsten ist: Eine stabile und gesicherte Beziehung zu ihren Eltern sowie die Ausbildung des in ihnen angelegten Potenzials. Viele wohlsituierte Eltern sind sich dessen bewusst und geben die Kinder nicht ganztags in eine Crèche, sondern zu einem Kindermädchen, einer Tagesmutter oder zu den Großeltern, die dafür sorgen, dass eine individuelle, liebevolle und persönliche Förderung ihres Nachwuchses stattfindet.

Die Kinder aber, die in den ersten beiden Lebensjahren kein gesichertes Selbst ausbilden können, weil sie ständig mit Unsicherheit konfrontiert sind und nicht über eine stabile Beziehung zu ihren Eltern verfügen, da diese nur abends nach 18 Uhr und am Wochenende Bezugspersonen darstellen, können in der Pubertät nicht auf ein sicheres Netz zurückgreifen, das sie auffängt, wenn sie ihren Weg suchen und dabei irren. Sie fallen quasi ins Nichts.

Was tun diese Jugendlichen, die nie gelernt haben, sich auf jemand anderen als sich selbst zu verlassen? Sie vertrauen höchstens Freunden, denen es ebenso geht. Oder aber sie bleiben beziehungslos, sind nicht gesellschaftsfähig und orientierungslos. Sie haben eben nicht in der Familie gelernt, was es bedeutet, Teil der Gesellschaft zu sein. Sie wissen nicht, dass dies Rechte und vor allem auch Pflichten mit sich bringt. Die Kernfamilie, die früher Garant für die Ausbildung gesellschaftsfähiger Bürger war, existiert nicht mehr, beziehungsweise nur noch am Wochenende. Hier werden die Kinder dann oft nicht erzogen, sondern verwöhnt, leiden die Eltern doch unter einem chronisch schlechten Gewissen ihnen gegenüber. Die „gesellige Bildung“, die Verinnerlichung der Regeln der Höflichkeit, der Rücksichtnahme, der Teilnahme, findet kaum statt. Gefragt sind zivilisierte Umgangsformen, die (vor)gelebt werden müssen. Man muss in der Gesellschaft nicht nur danach schauen, was einen selbst bewegt. Authentizität ist gut, doch manchmal muss man sich zurücknehmen, aus Höflichkeit, aus Rücksicht auf sein Gegenüber. „Der Gesellschaftsmensch nimmt das Gehäuse seiner guten Formen mit als Schutz gegen Chaos, Anarchie und Verwahrlosung.1“ Das aber fehlt unserer heutigen Gesellschaft; die Verwahrlosung wird oft allzu offensichtlich, wenn man an einer Schule tätig ist.

In einer Gesellschaft zu leben, bedeutet Verantwortung zu übernehmen, für sich und für andere. In erster Linie für sich selbst und die eigenen Gefühle. Was aber, wenn ich nicht einmal weiß, was ich gerade fühle, weil mir die Worte fehlen, es zu beschreiben? Wer nicht lernt, seine Gefühle zu benennen, hat Schwierigkeiten damit, zu verstehen, was in ihm selbst vorgeht, und kann nur schwer die Verantwortung für das eigene Gefühlsleben und die daraus resultierenden Handlungen übernehmen. Verantwortung beginnt bei den Eltern, die sie in diesen Zeiten jedoch aus den genannten Gründen viel zu oft abgeben: an Crèches, Maisons relais, Smartphones oder andere elektronische Geräte, die die Kinder mit Sicherheit ruhig stellen und „Erziehung“ ganz leicht machen.

Kinder brauchen wenig materielle Werte, Kinder brauchen Zeit: Zeit zur Entwicklung und Zeit mit ihren Eltern. Sie brauchen Eltern, die ihnen zugewandt sind und sie wahrnehmen, sie begleiten und stärken, auch dadurch, dass sie Grenzen setzen. Sie brauchen Eltern, die die Verantwortung übernehmen und ihnen diese nicht schon viel zu früh selbst zumuten.

Leider kommen diese Werte zu kurz, sie werden geopfert auf dem Altar der Wirtschaft. Dass diese Wirtschaft künftig von der heutigen Generation der Kinder und Jugendlichen abhängt, scheinen viele Politiker zu vergessen. Das Wachstum hat in Luxemburg einen teuren Preis, den die zukünftigen Generationen zahlen. Das seelische Wohl des Kindes muss im Zentrum stehen, denn nur dieses Wohl ist Garant dafür, dass die Wirtschaft auch in Zukunft auf belastbare und fähige Arbeitnehmer zurückgreifen kann.

Die Lösung kann nicht darin bestehen, reaktionär zu fordern, dass die Mütter zu Hause bleiben, um sich um die Kinder zu kümmern. Die Politik sollte es jedoch möglich machen, dass die Eltern über einen größeren Spielraum verfügen, frei zu entscheiden, wie sie die Erziehung ihrer Kinder gestalten wollen. In einer gleichberechtigten Partnerschaft sollte es möglich sein, dass beide Partner in den beiden ersten Lebensjahren des Kindes die Betreuung übernehmen, bis zu dem Zeitpunkt nämlich, zu dem das Kind ein gesichertes Selbst aufgebaut hat. Hat das Kind diese Sicherheit, kann es auch in der Pubertät darauf zurückgreifen und muss sich nicht ständig seiner selbst vergewissern.

Die Freiheit der Eltern würde sich bereits dadurch vergrößern, dass Wohnen und Leben erschwinglich sind. Arbeitet man mit Jugendlichen, erfährt man, wie frustrierend es für sie ist, zu wissen, dass ein späteres Gehalt nicht ausreichen wird, sich Wohnen und Leben in Luxemburg zu leisten. Wenn Träume von vornherein als nicht zu verwirklichen erscheinen, geben die meisten schnell auf. Warum sich anstrengen? Auch die Wirtschaft wird damit zu kämpfen haben. In diesem Sinne wäre es wünschenswert, dass die Politik etwas unternimmt: für die Familien, für die Kinder- und Jugendlichen, für die personelle Zukunft des Landes.

Die Ironie besteht im Moment darin, dass viele Eltern ganztags arbeiten, die Kinder von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends in Fremdbetreuung sind, damit Haus, Auto und Leben finanziert werden können. Die Kinderzimmer im Haus aber sind tagsüber leer und das Auto dient vor allem auch dazu, die Kinder aus dem Haus zu schaffen. Darauf würden die meisten gerne verzichten, doch diese Freiheit haben sie nicht.

1 Rüdiger Safranski: Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biographie, Fischer, Frankfurt am Main 2015, S. 402

Françoise Brück
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