In Berlin haben die Menschen etwas Kostbares: Zeit. Freie Zeit. Eine Tour durch Berliner Cafés, in denen man wunderbar arbeiten, lesen, plaudern oder einfach nur rumlungern kann

Lass uns die Zeit totschlagen, Kleene!

d'Lëtzebuerger Land vom 26.05.2011

Berlin. Wie es für eine Großstadt so üblich ist, befinden sich an jeder Ecke Orte, die entweder zu Spaß, zur spielerischen Weiterbildung oder einfach nur zum Zusammensein auffordern: Cafés, Keramikkurse, Kochkurse, Mangakurse, Schreibkurse, Russischkurse undsoweiter. Gemeinschaftliche Projekte und das gemeinsame Verbringen der Zeit werden hier groß geschrieben und dick unterstrichen. Nur wie es sonst für eine Großstadt nicht ganz üblich ist, können es sich in Berlin die meisten leisten und tun es auch. Ach ja, nicht nur der Preis ist ein Argument.

In Berlin haben die Menschen etwas, was noch viel kostbarer ist: Zeit. Freie Zeit. Und in einer Stadt, in der sich fast 3,5 Millionen Einwohner täglich über den Weg laufen, ist dieses Phänomen dermaßen präsent, dass es ganz schnell mit der Melodie des Alltags verschmilzt. Es wird zu einer Selbstverständlichkeit und zu dem, was diese Stadt ausmacht. Deshalb liebt man Berlin, weil man frei ist, sein Leben nach Lust – ja oft auch nach Faulheit – zu gestalten, ohne dabei ein Augenbrauen-Crescendo zurück zu bekommen. Man ist ja die Mehrheit. Und da die Menschen nirgendwo anders so gerne Zeit töten, nutzen oder einfach vergessen wie in Cafés, hier ein paar Adressen, die man sich für die nächste Stadtrundfahrt merken kann.

Verweilen wir zunächst im Sankt Oberholz, dem Eckcafé am betonierten Rosenthaler Platz auf der angesagten Torstraßse. Die dort schwimmende Menschenwelle ist vielfältig und doch typisch: Touristen, Teenies, Büroangestellte, Hipster, Fashionistas, jene, die noch zu schläfrig sind, um zu wissen, wozu sie eigentlich hier sind. Und dann natürlich die, die dieses Café zum womöglich bekanntesten Laptop-Zoo der Stadt gemacht haben – die digitale Boheme. Kaum ein anderes Café in Berlin stellt so viele WLAN- Benutzer aus wie das Sankt Oberholz, und dies unabhängig von Uhrzeit oder Fußballspiel. Nach dem Motto „Mein Büro ist da, wo es WLAN gibt“ kommen hierher die, die (noch) keinen Internetanschluss zu Hause haben, oder die die hier genau das tun, worauf sie bei sich zu Hause keine Lust haben. Es gibt Übersetzer, Journalisten, Schriftsteller, Studenten, Grafiker, Regisseure.

„Einer unserer Stammkunden ist Cutter von Pornofilmen. Eigentlich ein netter Typ, wenn er nur nicht so kompliziert wäre. Beim Saft besteht er auf genaue Dosen: fünf Prozent Karotte, 15 Prozent Rote Beete, 20 Prozent Apfel, den Rest Orange“, erzählt der Kellner. Diese Versammlung von Usern, die sich als Freiberufler oder Hobbysurfer stundenlang in Cafés einsperren, ist jedoch nicht immer sehr lukrativ. „Was für den Kunden von Vorteil ist, ist für den Besitzer manchmal eine Last. Leider verbringen die meisten WLAN-Gäste den ganzen Tag im Café und konsumieren währenddessen nur ein Soja Latte. Es gibt auch welche, die ihr eigenes Pausenbrot mitbringen und ihre leeren Wasserflaschen liegen lassen. Aber rausschmeißen tun wir sie nie, schließlich sind wir hier wie eine große Familie“.

Diese Arbeiten-im-Café-Kultur erzählt von einem neuen Sein, irgendwo zwischen allein und doch umgeben, zwischen isoliert und doch sozial. Denn letztlich entscheiden Menschen, ihren Kokon zu verlassen, um in der Öffentlichkeit ungestört und doch gestört zu sein. Mit gewölbten Rücken, wie verwelkte Blumen aussehend, sitzen sie dicht an dicht neben fremden Körpern und verschwinden in der virtuellen Welt. Und trotzdem erinnert ein Husten, ein zufälliges Gespräch oder eine praktische Erkundigung an die Umgebung Gleichgesinnter, wahrer Menschen eben.

Sankt Oberholz könnte sich glatt ausschließlich den WLAN-Süchtigen widmen, wären da nicht die anderen, die Wärme und Gemütlichkeit in den Räumen verbreiten: Omas, die mit ihren Enkeln ein Stück Kuchen genießen, frischverliebte Jugendliche, die einander verschlingen, in Büchern versunkene Romantiker, die jede einzelne Seite mit beneidenswerter Zärtlichkeit umdrehen. Und nicht zu vergessen der Strickclub, der hier regelmäßig stattfindet und Neugierige jeden Alters zur Oma-stalgie einlädt. Dieses Paradox resümiert die stark herrschende Meinung vieler Menschen in Berlin: Man mag zwar etwas an einem Ort hassen, aber dann gibt es doch vieles, was man daran liebt.

Auch wenn die Apfellogos von allen Seiten leuchten und sie einen auf Dauer irritieren, kommt man trotz allem gerne hierhin. Weil die Kellner nett und die Gäste eklektisch sind. Weil man, ohne sich zu genieren, die immer vorhandenen Klatschzeitungen durchblättern kann, deren neuste Ausgaben man immer hier findet. Weil die Menütafel und die Barvitrine Leckeres und Farbiges demonstrieren. Weil der Gang zur Toilette durch das Abspielen von Kinder-Hörbüchern verschönert und verlängert wird. Und weil das alles gekrönt werden kann von der immer anwesenden großen Chancen, auf ein bekanntes Gesicht zu treffen. Man hat mir gesagt, dass in der gleichen Strasse Wim Wenders wohnt. Vielleicht sollte ich öfter und länger hier hocken.

Läuft man quer über den Rosenthaler Platz, trifft man auf Mein Haus am See, das recht neu eröffnete Café auf der hupenden Brunnenstrasse. Dieses arty farty Lokal gibt denen, für die das Sankt Oberholz zu angesagt ist, die passende Fluchtoption. Die Räumlichkeiten sind sogar für Berliner Umstände richtig groß und bilden die Darstellung per se von dem seit einiger Zeit dominierendsten Berliner Einrichtungsstyl: auf Ebay oder auf den vielen lokalen Flohmärkten ergatterte Möbel aus zweiter Hand, wo sich DDR-Fundus mit geschmackvollen skandinavischen Teakholzsofas und -sideboards vermischt und so dem Besucher das Gefühl gibt, ganz bei sich und doch ganz woanders zu sein.

Die Wände sind nicht zu Ende bemalt, dafür aber von einer Kunststudentin bekritzelt, was einen Hauch Naivität und Poesie in die Atmosphäre pustet. Tatsächlich erreicht dieses Lokal das, was auch zu erreichen ist: Gäste dazu zu bringen, gerne, häufig und lange zu bleiben. Anders als in sonstigen Cafés dieser Art besteht der Hauptteil von Besuchern nicht aus Mac-Usern, auch wenn man hier ebenso unbegrenzt WLAN anbietet. Hier trifft man sich einfach gerne zum Reden, zum Zusammensein, zum Tauschen. Tags­über bei einer leckeren Tasse Kaffee oder dem „so-typisch-berlinischen“ Club Mate, abends bei dem erstaunlich leckeren Mojito, der die Gesprächsthemen auf eine eindrucksvoll rasante Art und Weise vertieft und färbt. Es ist wirklich verwunderlich, was für eine wichtige Rolle die Bequemlichkeit eines Möbelstücks spielen kann. Sobald der Po sich im Sofa eingeformt hat, findet man etwas, was dem Sinn des Lebens nahe steht.

Im Falle dass man den betonierten Ecken des Zentrums entkommen will und, wie es sich für Berlin gehört (mit Anfang 20 schon) ein Kind hat, geht man lieber ins kinderfreundliche Prenzlauer Berg, wo die früher hier lebenden Punks und Squatter von den wie Gras sprießenden schreienden Babys weggejagt wurden. Was aber eigentlich nicht dramatisch ist, denn Berlin schafft mehr als genug Platz für jeden. Von den vielen Cafés sollte man das Wohnzimmer betreten, wo sich tagsüber Muttis auf Kaltes und Warmes treffen, während die Kinder sich auf dem gegenüberliegenden Spielplatz austoben oder in den nahen Eisdielen ihre Münzen loswerden. Nicht zu vergessen sind die Tischtennis-Tische, die über alle Kieze in Berlin verstreut sind und Freunde, Nachbarn und die, die sonst nichts zu tun haben, sportlich zusammenführen.

Ein paar davon befinden sich vor der Nase dieses Cafés, was schon Grund genug ist, hier eine Pause einzulegen, bis man beim Spielen wieder als Nächstes an der Reihe ist. Doch trotz der innenstehenden und außenfahrenden Kinderwagen, deren Räder auf dem Kopfsteinpflaster wie hektische Pferdeschritte klingen, schafft es das Wohnzimmer, auch kinderlose Gäste anzuziehen. WLAN ist hier, wie anderswo auch, ohne Zweifel ein bedeutender Faktor. Im Frühling und Sommer sieht man ganz mutige Nutzer, die ihren Laptop draußen auf die Tische schleppen und, wegen des Pollenschnees laut niesend, versuchen, etwas auf ihren Bildschirmen zu sehen.

Ein weiterer Grund, dieses Lokal zu besuchen, ist wiederum die Einrichtung, besser gesagt: die kitschigen und chaotischen, aber im Ensemble eigentlich passenden Secondhandmöbel, die die DDR-Nostalgie der Besitzer zur Schau stellen. Abends wird hier das Rauchverbot gestrichen, und das Familiencafé verwandelt sich in ein cooles Lokal, wo ungiftige Cocktails zu fairen Preisen serviert werden. Zwar ist das Personal leider oft humorlos, doch der Besuch lohnt sich. Selten kommen Kinderliebende und Kinderhasser so gut klar.

Berlin wächst, die Stadt ändert sich im Wochentakt und das soll ruhig so bleiben. Immer wieder erinnert es mich an meine Geburtsstadt Vilnius, wo inmitten der gleichen vier Wände in einer Zeitspanne von einem Jahr eine Apotheke, eine Bücherei, eine Kaffeestube, ein Schuhmacher, ein Alarmanlagen-Geschäft und ein Kosmetikinstitut ihre Türen öffnen. Berlin, eine Stadt, wo die einen zu reich und die anderen zu arm sind, um in ein Büro arbeiten zu gehen, und deshalb das kollektive Herumlungern in Cafés bevorzugen. Wo Arbeitslose oder Nichtstuer sich nicht zu schämen brauchen, da es so viele davon gibt, und wo der Stadtslogan „arm aber sexy“ ohne Ironie aber mit einem Schmunzeln geschrieben wird. Wo man aufs soziale und freundliche Nebeneinanderleben noch ganz viel Wert legt, und die konstanten Veränderungen die Stadt trotz der immer steigenden Preise jung und spannend halten.

Jedes Jahr blüht ein neuer Bezirk auf, letztjähriges Ghetto wird zum diesjährigen Treffpunkt, wo die Ärmeren und nicht so Armen die Möglichkeit haben, für wenig Geld ihre Existenz neu aufzubauen. Wo neue Cafés, neue Restaurants, neue Imbisse ihre Menüs ausstellen. Und wo man wieder neue Orte hat, um nichts zu tun oder gerade Vieles, wenn möglich zusammen. Vielleicht sehen wir uns ja dort.

Zum Notieren:- Sankt Oberholz; Rosenthaler Straße 72a; 10119 Berlin. - Mein Haus am See; Brunnenstraße 197/198; 10119 Berlin- Wohnzimmer; Lettestraße 6 / Helmholtzplatz; 10437 Berlin
Gintare Parulyte
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