Die kleine Zeitzeugin

Die Corona der Schöpfung

d'Lëtzebuerger Land vom 20.03.2020

Belämmert stehen wir da und sehen aus dem Fenster, es ist alles so schön ruhig. Irgendwie schön. Man kann die Knospen explodieren hören und das Gras wachsen. Ein paar Autos, immerhin, doch auch beruhigend, und Menschen gehen spazieren. Komisch, hier gingen nie Menschen spazieren. Stiegen nur in und aus Autos und fuhren in Autos davon. Woandershin. Immer woandershin. Sie wirken irgendwie entspannt, als hätten sie kein Ziel. Als müssten sie nirgendwohin. Als müssten sie nichts. Nur sterben.

Es ist wirklich ruhig, alle gehen vorbei, aneinander, ein paar Familien gibt es, wie ungewöhnlich hier, sie wirken beinahe glücklich. So untereinander, so mit sich. Ein paar radeln mit ihren Kindern. Beinahe idyllisch, wie der heimtückische Anfang eines Horrorfilms.

Wieso Horror? Manche entdecken ihren Garten oder ihren Gatten. Froh so einen zu haben. Manche entdecken ihre Kreativität, oder sich selber, sie gehen in sich, statt sonstwo Oberflächliches hin.

Die Alten hören, dass sie für erhaltenswert gehalten werden, beruhigend doch. Wo sie ja schuld an allem sind, am Klimakollaps, an der ausgeraubten Welt. Das ansteckende Lachen der kleinen Killer_innen, einst Enkelkinder genannt, ist nicht mehr zu hören. Junge nackte Körper feiern rebellisch den Frühling im Park. Warum denn nicht, wegen denen, die sowieso sterben?, fragen einige.

Die Mienen der Politiker_innen und Virolog_innen verdüstern sich. Wissen sie etwas, was wir nicht wissen? Stimmt es, dass England Massenfriedhöfe plant? In Bergamo schleppen weiße Gespenster Särge durch das blühende Bild, spitzschnäbelige schwarze Vögel flattern in uns auf, sie sind vor Leichenkarren gespannt. Der Tod in Venedig. Oder, viel schlimmer, dämmert den Politiker_innen und Virolog_innen, dass sie nicht wissen? Kein Mensch weiß, was auf uns zukommt.

Wie bitte? Wir sind doch Europa, Wissenschaft, Aufklärung, wir sind liquid, solid. Im Gespensterfilm spielen nicht wir die Hauptrollen, wir sind die Zuschauer_innen. Hier ringt man nicht um Luft und hier muss man nicht ringen um die Luft. Hier ist nicht mal Erdbeben, und wenn, dann sagen sie in den Nachrichten, dass an der Mosel ein Bild von der Wand gefallen sei. Sterben geschieht kontrolliert, außer bei Unfällen oder Turbo-Krebsen, alles können wir nicht verhüten wie Kinder. Sterben kann man in der Schweiz in einem würdevollen Rahmen. So geht Europa. In Europa erstickt man nicht, nur hin und wieder, aber das ist dann ein privates Problem.

Wozu haben wir unsere tausend Versicherungen, wenn es nicht mal eine Atemmaske für uns gibt, garantiert, reserviert? Haben wir nicht das Recht darauf? Dass alles getan wird damit … damit… damit wir nicht … nicht …? Hallo! Hier ist Luxemburg, Europa, Kunst, Menschenrechte, alle Geschlechter, hallo! Hier ist Markusplatz und Louvre und Bankenparadies, und wir sind nicht im Krieg, Herr Macron. So was haben wir längst abgeschafft.

Hallo, hört jemand zu?! Ich steige jetzt auf die Barrikaden, also meinen Balkon, und schreie: Virus go home! I don’t stay home!

Nein, ertönt ein großer, starker Chor. Alle müssen zusammenhalten und durchhalten. Alle sind Alltagsheld_innen. Die Solidarität besteht in der Vereinzel(l)ung. Liebe deine Nächste, indem du sie meidest! Wasch dir die Hände und verkrümel dich in deine Wohnung, du Menschenkrümel! Und warte darauf, wie alles zerfällt, wie die EU gerade, die in Nationalstaaten zerfällt, aus Deutschland werden sogar Länder. Ein Land nach dem andern macht dicht und trägt Heimatschutzkleidung im Kampf gegen das Virus.

Warte darauf, wie die Welt im Zeitlupentempo und zugleich rasend schnell zerfällt! Die Zeit ist reif, das System am Ende, raunen die Stimmen in meinem Kopf immer lauter. Oder ist das ein Tinnitus, weil die Welt stillsteht und nur noch die Leichen gezählt werden? So wie anno Tschernobyl die Becquerels und anno Rinderwahn die Rinderwahnsinnigen. Dann hörten sie irgendwann auf und gut war’s.

Aber jetzt wird es nicht so schnell gut.

Michèle Thoma
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