Uhren sind Luxus

In absehbarer Zeit

d'Lëtzebuerger Land vom 25.09.2015

Die „wichtigste Uhr der Welt“ nannte das Auktionshaus Sothebys die Taschenuhr des amerikanischen Bankers Henry Graves vor deren Versteigerung vergangenen November. Wie der Name vermuten lässt, ist die Supercomplication die komplexeste Uhr, die je gebaut wurde – ohne Einsatz von Computertechnik. Unter „Komplikation“ verstehen Uhrenkenner alle Informationen und „Tricks“, die über das Anzeigen von Sekunden, Minuten, Stunden und Datum hinausgehen.

Die Graves Supercomplication, die 1933 fertig gestellt wurde, zeigt unter anderem beispielsweise den Sternenhimmel über der 5th Avenue in New York an, dem Domizil des Bankers. Sie hatte bereits einen integrierten Wecker, eine Stoppuhr, ein Glockenspiel und einen Knopf zum Abstellen des Glockenspiels. Bei der Versteigerung in Genf vergangenes Jahr wurde sie für 24 Millionen Dollar verkauft. Bei der Versteigerung davor im Jahr 1999 hatte sie elf Millionen Dollar erzielt. Bis 1989 blieb sie die komplexeste mechanische Uhr, die je gebaut wurde. Dann baute Patek Philippe, Hersteller der Graves, zur Feier des 150. Firmenjubiläums eine noch kompliziertere Armbanduhr, die ihrerseits 2014 zum 175. durch eine noch komplexere Armbanduhr abgelöst wurde: Die Grandmaster Chime.

Eine Armbanduhr ist die Grandmaster Chime eigentlich schon alleine aufgrund des Gewichts nur in der Theorie. Wer würde schon eine Uhr von über einem Kilogramm Gewicht über längere Zeit am Handgelenk tragen wollen? Dafür bietet sie auf zwei Ziffernblättern fast alles, was der digitale Mensch von seinem Smartphone erwartet. Sie zeigt die Mondphasen an, ob Tag oder Nacht in zweierlei Zeitzonen ist, hat einen integrierten Wecker, der die Weckzeit läutet. Sie kann das Datum läuten und enthält natürlich einen ewigen Kalender, der weiß, wann ein Schaltjahr ist. Wem das ganze Geläute weniger gefällt, kann die Uhr auf „lautlos“ stellen. Verkaufspreis für die sieben hergestellten Grandmaster Chime, von denen eine direkt ins hauseigne Museum ging: 2,6 Millionen Dollar.

Eine Swatch, der Verkaufsschlager aus Plastik, besteht aus 51 Einzelteilen. Das Uhrwerk der Grandmaster Chime wurde aus 1 366 Bauteilen gefertigt. Natürlich spielen beim Preis einer Uhr auch die Materialen eine Rolle. Gold, Platin oder Stahl – ist sie mit Edelsteinen besetzt, ist das Ziffernblatt mit Details aus Email oder Lack dekoriert? Aber zuerst ist es die technische Leistung, die eine Uhr teuer macht.

Eine mechanische Uhr, wohlverstanden. Die Präzision von Quarzuhren können mechanische Uhren sowieso nicht überbieten. Deshalb bestehe der Reiz einer mechanischen Uhr darin, die Präzision und Komplexität weitestgehend zu verfeinern, sagt Robert Goeres, der selbst Rolex-, Patek-Philippe- und Chanel-Uhren in seiner Boutique in der hauptstädtischen Rue Philippe II verkauft. Und das mit einer „Technologie“, die erstmals im 13. Jahrhundert in Uhrwerken an öffentlichen Gebäuden zum Einsatz kam.

Keiner müsse heute noch eine Uhr tragen, um zu wissen, wie viel Uhr es sei, sagt Goeres. Im Telefon ist eine Uhr integriert, im Computer, im Fotoapparat, dem Auto, selbst der Backofen zeigt ebenfalls an, wie spät es ist. Brauchen tue deshalb eigentlich niemand mehr eine Uhr. „Luxus ist, was man nicht braucht“, sagt Goeres; deshalb sei Luxus ein relatives Konzept, das jeder individuell definiere. Er sieht sich deshalb nicht nur in Konkurrenz mit den Vertreibern anderer Uhrenmarken, exklusiver Schreibwaren, Handtaschen oder Kleidung, sondern beispielsweise auch mit Reisebüros. Je nach Vorliebe geben die Konsumenten beim Reisen Geld für höchstmöglichen Komfort oder das möglichst authentische Zusammentreffen mit anderen Kulturen aus.

Dass es in Luxemburg immer mehr „Luxusboutiquen“ gibt, führt der Geschäftsmann ganz einfach darauf zurück, dass es im Land und in der direkten Nachbarschaft ausreichend Konsumenten gebe, die sich diesen „Luxus“ leisten könnten. Würden sie keinen Umsatz machen, gäbe es die Boutiquen nicht, stellt Goeres fest. Manche Konkurrenten seien auf Touristen spezialisiert, stellten asiatisches oder russisches Personal ein, das die Kunden in ihrer Muttersprache bedienen könne. Andere setzten auf die „lokale“ Kundschaft, die in und um Luxemburg wohne. Denn um Luxemburg ist das Angebot für Liebhaber exklusiver Waren begrenzt, in Frankreich konzentrieren sich die Boutiquen in Paris, in Belgien in Brüssel. „Aber wenn sie in Paris in eine Boutique gehen, können sie dort zehnmal einkaufen, das nächste Mal kennt sie das Personal dennoch nicht. In Luxemburg kaufen sie zweimal etwas – dann kennt sie der ganze Laden“, erklärt Goeres, warum das Einkaufen in Luxemburg ein zufriedenstellenderes Erlebnis sei als in anderen europäischen Hauptstädten.

Wenn es um teure Uhren geht, ist der Herstellungsort unabhängig davon, ob sie in Paris, New York oder Hongkong verkauft werden, immer der gleiche: die Schweiz, genauer der Kanton Jura. „Ein Parfüm können sie in jeder dieser Städte signieren und es wird sich verkaufen. Doch selbst die größten französischen Modemarken lassen ihre Uhren in der Schweiz herstellen“, so Goeres. Was nicht „Swiss made“ ist, habe keine Glaubwürdigkeit. Dabei kann für Goeres keine Rede von einer „Schweizer Uhrenindustrie“ sein. Weil es keine „industrielle“ Fertigung gibt und die Stückzahlen vergleichsweise klein sind. China ist mit einer Produktion von 634 Millionen Uhren jährlich der größte Uhrenproduzent der Welt, gefolgt von Hongkong mit 331 Millionen Uhren. In der Schweiz werden jährlich nur 28 Millionen Chronometer angefertigt. Doch Volumen und Wert der Produktion stehen im umgekehrten Verhältnis zueinander. Auf dem Uhrenweltmarkt entspricht das Pre­mium- und Luxussegment – alle Stücke, die mehr als 3 000 Schweizer Franken kosten –, nur 18 Prozent der Produktion, dafür aber 85 Prozent des Umsatzes.

Dass das auch in absehbarer Zeit so bleibt, liegt auch daran, dass die Uhrenproduzenten zwischen Basel und Bern, obwohl sie großen Gruppen wie Swatch (Balmain, Blancpain,...), LVMH (Tag Heuer, Bulgari,...) , Kering (Alexander McQueen, Stella McCartney, ...) oder Richemont (Cartier, Montblanc, ...) gehören, Kleine und Mittlere Unternehmen sind. Deshalb ist es nicht möglich, einen Großteil der Produktion auf einen Schlag ins Ausland zu verlagern.

„Trends gibt es immer“, sagt Goeres. Manche Marken experimentieren mit neuen Materialien, wie Keramik. Die Farbpalette variiert. „Aber im Prinzip ist es ganz einfach: Was in ist, wird auch wieder out sein. Deshalb ist die wirkliche Frage, was die Sammler 20 Jahre später davon halten.“ Wer die Kataloge der Versteigerungen, durchblättert bei denen Sammler kaufen und verkaufen, merkt: Unter den „wichtigen Uhren“ sind zwar auch außergewöhnliche Stücke mit besonders verschwenderischer Verzierung. Den Großteil allerdings machen rein optisch relativ diskrete Uhren aus.

Michèle Sinner
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