Neben finanziellen Mitteln können vor allem exzellent ausgebildete Professionelle bei der Armutbekämpfung helfen. Doch leider wird die Sozialarbeit auch in Luxemburg immer weiter zerstückelt und bürokratisiert

Suen eleng ginn net duer

d'Lëtzebuerger Land du 07.07.2023

Seit 2010, dem ersten Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, sind Begriffe wie Armutsbekämpfung und Förderung der sozialen Kohäsion in aller Munde und werden auch von den jeweiligen Akteuren in Politik und Öffentlichkeit immer wieder gerne benutzt, obwohl ja mit dem Thema Armut noch nie Wahlen gewonnen wurden.

Noch nie wurde auch in Luxemburg mehr Geld in die Sozialpolitik investiert wie heute, 47 Prozent der Staatsausgaben sind dieses Jahr Sozialausgaben. Doch trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb? – steigt das Armutsrisiko immer mehr und geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander: Bei Alleinerziehenden und Großfamilien liegt laut Eurostat das Armutsrisiko bei über 40 Prozent. Mehr als ein Fünftel der Jugendlichen ist armutsgefährdet. Die Bildungsungleichheiten nehmen zu: Dem Nationalen Bildungsbericht 2021 zufolge sind unter den ins „Classique“ orientierten Schüler/innen 72 Prozent aus so genannten gut situierten Familien, gegenüber 16 Prozent aus sozial benachteiligten. Gleichzeitig werden immer mehr Professionelle krank: In Deutschland sind Sozialverwaltung, Sozial-
versicherung und der gesamte Bereich der Sozialen Arbeit die Berufsgruppen mit den meisten Burnouts.

Die Politik wiederum entfernt sich immer mehr von der Gesellschaft. Die Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaften hat festgestellt: „Krankheit in der Sozialhilfe ist eher die Regel als die Ausnahme. Es ist ein systemisches Problem, das systemisches Handeln erfordert.“

Zustände hier im Land

Historisch gesehen, wurden in Luxemburg in den letzten 50 Jahren viele politische Initiativen zur Armutsbekämpfung ergriffen. Es wurden viele Gesetze verabschiedet und reformiert (Aide sociale, RMG…). Viel Geld floss in Strukturen (Schulen, Maisons Relais, die Universität…), in Aus- und Weiterbildung (neue Ausbildungsgänge wie Bachelor und DAP…) sowie in Personal, zum Beispiel in den Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Auch wurden und werden die Forschungs-, Analyse- und Messmechanismen immer ausgeklügelter. Bei Gesetzesreformen wie zur Aide sociale oder dem Revis werden Evaluationen verpflichtend verankert. Alle zwei Jahre erscheint der Nationale Bildungsbericht, alle fünf Jahre der Nationale Jugendbericht. Die nationale Beobachtungsstelle für Schulqualität wurde mit vielen Ressourcen zum Observatoire de l’enfance, de la jeunesse et de la qualité scolaire aufgestockt.

Warum greifen all die Aktionen zur Armutsbekämpfung nicht so, dass Armut kein Thema mehr ist? Warum geht es vielen Menschen noch immer so viel schlechter? Warum gibt es manchmal sogar Rückschritte? Hier zur Skizzierung einige exemplarische Beispiele, die die so genannten „Armen“ betreffen, die Professionellen, die mit ihnen arbeiten, und deren Aus- und Weiterbildung.

Sozialhilfegesetz Revis-RMG: vom fortschrittlichsten Gesetz zur Armutsfalle?

Als das Gesetz über das garantierte Mindesteinkommen RMG – heute Revis – 1986 in Kraft trat, war es das fortschrittlichste Sozialhilfegesetz in ganz Europa. Neben der Wahrung der Anonymität und dem einklagbaren Recht war es ein Paradigmenwechsel: weg von der reinen, oft willkürlichen finanziellen Unterstützung hin zur aktiven Hilfe bei der sozialen und beruflichen Integration durch maßgeschneiderte zielgruppenspezifische Hilfen (Prävention, Beratung, Weiterbildung). Dafür sollten spezialisierte Abteilungen sorgen, wodurch viele die Möglichkeit erhielten, aus der Sozialhilfe zu kommen und sich eine von Scham befreite, selbstbestimmte Zukunft ohne Schulden aufzubauen.

Die Fokussierung auf Arbeit als das wichtigste Instrument zur Eingliederung für alle Zielgruppen, die sich seit der Jahrtausendwende auch vermehrt in den Maßnahmen der Sozialhilfe widerspiegelte, fand 2019 in der Reform des RMG mit dem neuen Revis-Gesetz ihren bisherigen Höhepunkt: Die Zuständigkeit für das „Profiling“ liegt nicht mehr in der Hand der zuständigen Abteilung des Familienministeriums, sondern wurde in die Kompetenz des Arbeitsministeriums verlagert.

Dies kann für einen Bruchteil der arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger passen. Wobei es schwerfällt, sich den qualitativen Mehrwert zu erschließen, wenn aus einer enquête sociale, durchgeführt von einem Assistant social, ein Zehn-Fragen-Katalog zum Selbstausfüllen wird. Wo aber sind die spezifischen Hilfen und Maßnahmen für all die anderen Zielgruppen, die noch nicht oder nie mehr dem ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen werden? Zum Beispiel für die 7 611 Kinder und 899 Jugendlichen, die 2021 in Revis-Haushalten lebten? Für die 1 336 Alleinerziehenden im Revis, die wegen fehlender Kinderbetreuung keine Chance auf Integration hatten? Wie viele Menschen bekamen keine Maßnahme, obwohl sie ein Recht darauf hatten? Überall dort wird die so genannte „Dispense“ von der Maßnahme zum lebenslangen vergifteten Geschenk, weil Geld zurückgezahlt werden muss, etwa wenn Personen nicht an einer Maßnahme teilnehmen. Oder auch, wenn Hypotheken auf Wohneigentum aufgenommen werden – allein 650 neue Hypotheken im Jahr 20211. Revis gibt es nicht umsonst. Diese Personen verschulden sich und ihre Kinder jeden Tag – ohne eigenes Verschulden – immer mehr und bleiben für Generationen abhängig von staatlichen Hilfen und stigmatisiert.

Forschungsberichte belegen seit langem, dass es neben finanziellen Mitteln vor allem fachlich und persönlich exzellent ausgebildete Professionelle sind, die hier helfen können. Aber leider wird die Sozialarbeit auch in Luxemburg immer mehr zerstückelt und bürokratisiert, so dass eine ganzheitliche und nachhaltige Sozialarbeit nicht mehr möglich ist. Immer seltener kann sich der Sozialarbeiter um das gesamte Dossier kümmern. Längst ist es üblich, dass drei, vier oder fünf Assistants sociaux mit einer Person arbeiten. Das ist nicht effizient, es kann Situationen verschlimmern und macht viele Sozialarbeiter krank.

Aus- und Weiterbildung: Entfernung von der Praxis statt Theorie und Praxis im Dialog?

Die prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt und in der Ausbildung verschlimmert die Situation für die Betroffenen und die Professionellen oft noch mehr. Geht die Richtung immer mehr vom ganzheitlichen Generalisten zum „Schmalspurausgebildeten“, dem der Überblick fehlt? Ist Theorie so viel wichtiger als Praxis? Es fehlen Tausende von Fachkräften in den sozio-edukativen Praxisfeldern. 2021 wurden allein beim Éducateur über 800 offene Stellen gezählt, beim Bachelor fast 7002. Während die Universität 56 Bachelor-Diplome in Sozial- und Erziehungswissenschaften vergab.

Da ist es auch nicht hilfreich, wenn die Universität einen qualitativ hochwertigen berufsbegleitenden Studiengang (Bachelor in Sozial- und Erziehungswissenschaften in Kooperation mit der Chambre des salariés) in diesem Bereich abschafft, obwohl mehr als 150 Interessent/innen auf der Warteliste stehen. Auch beim regulären Studiengang gibt es viel mehr Bewerbungen als Studienplätze. Die Ausbildungen auf den verschiedenen Qualifikationsniveaus verlangen generalistische Basiskenntnisse und Praxiserfahrung, doch leider geht der Trend hin zu zielgruppenspezifischen Ausbildungen.

Parlament und Politik: Silodenken und Bürgerferne statt interministerieller Koordination und Nähe zu den Menschen?

Ist die Politik noch ein Spiegelbild der Gesellschaft oder sitzt sie immer mehr im Elfenbeinturm? Armut und Armutsbekämpfung betreffen die gesamte Gesellschaft, „von der Wiege bis zur Bahre“, und damit auch (fast) alle Ministerien – das für Familie und das für Gesundheit; das Bildungsministerium, das Arbeitsministerium und das Justizministerium. Das Innenministerium, das Gleichstellungsministerium, das Wohnungsbauministerium, aber auch das Wirtschaftsministerium und das Außen- und Immigrationsministerium3. In den Kompetenzbereichen all dieser Ressorts sind soziale Organisationen etabliert und Sozialarbeiter tätig.

Das könnte positiv sein, doch da sie alle noch mit vielen anderen Themen zu tun haben, ist nicht immer ersichtlich, ob und inwiefern sie sich zuständig fühlen. Und die interministerielle Koordination ist mehr als herausfordernd. Erschwerend kommt hinzu, dass im Parlament verschiedene Berufsstände und gesellschaftliche Schichten nicht mehr repräsentiert sind, und bei 21 Frauen von 60 Abgeordneten besteht ebenfalls noch Luft nach oben.

Was können wir tun?

Als eines der reichsten Länder der Welt muss Luxemburg auch weiterhin viel Geld und Ressourcen für Sozialpolitik und den Zusammenhalt in der Gesellschaft ausgeben. Aber so, dass damit im Kampf gegen Armut mehr bewirkt werden kann. Armutsbekämpfung sollte zur Chefsache aller zuständigen Minister/innen gemacht werden, die zum Beispiel eine Arbeitsgruppe bilden (wie 2004 in Deutschland), in der auch Betroffeneninitiativen und Vertreter/innen aus Praxis und Wissenschaft sitzen. Diese sollten sich mindestens zweimal im Jahr treffen, um verschiedene Themen kontinuierlicher zu besprechen und ganz praktische Lösungsansätze zu diskutieren.

In der Sozialhilfe braucht es bei den verschiedenen Gesetzesreformen im Vorfeld gemeinsame Strategien der zuständigen Ministerien und in der Praxis mehr Begleitung und Unterstützung aus einer Hand. Auf kommunaler Ebene bestehen bereits „Guichets uniques“ durch die 30 Sozialämter mit verschiedenen Abteilungen. Aber die Hilfesuchenden benötigen einen einzigen Ansprechpartner (Fallmanager) für die Begleitung. Er ist Ansprechpartner von Anfang bis Ende, egal ob die Person Revis erhält, So-
zialhilfe oder etwas anderes; egal ob sie überschuldet ist oder eine Wohnung sucht. Hinter dem Guichet muss das multiprofessionelle Team stehen, mit Spezialisten, die ihre Arbeit machen, eigenverantwortlich und ohne bürokratische Hürden. Das ist nichts Neues, kann aber viel effektiver sein, Kosten sparen und auch das Wohlbefinden der Betroffenen und der Sozialarbeiter/innen erhöhen.

In der Ausbildung und Qualifizierung würde die von der Ances (Association nationale des communautés éducatives et sociales) schon lange geforderte Etablierung eines einheitlichen mehrstufigen Qualifika-
tionsrahmens mit spezifischen Berufsprofilen für die soziale und sozialpädagogische Arbeit, unter interministerieller Koordination, vieles erleichtern. Sie würde dazu beitragen, die entsprechenden Ausbildungen qualitativ und quantitativ nicht abzubauen, sondern auszubauen.

Die OECD hat das Luxemburg vor Kurzem im Bereich Weiterbildung empfohlen. In ihrem Bericht stellt die OECD fest, dass diese Koordination fehlt: „Dadurch, dass die Kompetenzen zwischen verschiedenen Ministerien und Diensten des Landes aufgeteilt sind, gibt es Nachholbedarf bei der Koordination auf Regierungsebene.“

Hilfreich wäre auch, wenn die Abgeordnetenkammer wieder vielfältigere Repräsentanten aus der Gesellschaft hätte, um mit ihrer Politik den sozialen Zusammenhalt besser zu fördern und damit effizienter die Armut zu bekämpfen. Es gibt also Stellschrauben, die nicht mehr kosten – im Gegenteil –, aber vieles verbessern können.

Es zeigt sich aber auch, dass der viel benutzte Begriff der sozialen Kohäsion, der definiert wird als „die Fähigkeit einer Gesellschaft, das Wohlergehen all ihrer Mitglieder zu sichern und durch Minimierung von Ungleichheiten und Vermeidung von Marginalisierung Unterschiede und Spaltung zu bewältigen sowie die Mittel zur Erreichung des Wohlergehens aller zu gewährleisten“, täglich von allen Mitgliedern der Zivilgesellschaft gelebt und von den Entscheidungsträgern umgesetzt werden muss; vor allem in einem so reichen und überschaubaren Land wie Luxemburg..

Petra Böwen ist Beraterin und Vizepräsidentin der Association nationale des communautés éducatives et sociales (Ances).

1 Alle Statistiken in diesem Abschnitt laut Jahresbericht 2021 des Familienministeriums

2 Böwen, Petra; Flammang, Manou: „Der Arbeitsmarkt der sozialen Arbeit” (Newsletter). https://orbilu.uni.lu/handle/10993/49181

3 Böwen, Petra: „Der Bachelor in Sozial- und Erzeihungswissenschaften und seine Praxisfelder”. https://hdl.handle.net/10993/31549

Petra Böwen
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