Nachruf

Fuck Zukunftsvisionen

d'Lëtzebuerger Land vom 27.03.2020

Wenn es den englischen Begriff transgression nicht schon gäbe, dann müsste man ihn für Genesis P-Orridge erfinden. Überschreitung, Verstoß, Verfehlung, Übergriffe – feste Bestandteile im Leben des Frontmenschen der Bands Throbbing Gristle und Psychic TV. Im Handumdrehen – wenn auch nicht alleine – kreierte er*sie laut englischer Musikpresse das Genre der Industrial Music und sollte nie wieder von ihr getrennt werden. Am Samstagabend des 14. März kam die Meldung, dass Genesis P-Orridge an den Folgen einer langjährigen Leukämieerkrankung im Alter von 70 Jahren verstorben sei.

Die Gleichsetzung von Musikgenre mit der Person P-Orridge und dem damit einhergehenden Personenkult war – zumindest anfänglich – ihm*ihr zuwider. Der Rock mit seinen Sternen und Macho-Gehabe sollte nicht, wie im Punk, gesprengt, sondern viel langfristiger und intellektuell für null und nichtig degradiert werden. Natürlich kam aber der Krach, das Geheule und Gekrächze der Zielsetzung ganz gelegen.

Der industrielle Sound, der dem Label Industrial Music von Natur aus (sic!) anhängt, wurde jedoch nicht, wie es die angelsächsische Musikpresse seit vergangenem Wochenende deklamiert, von P-Orridge, Cosey Fanni Tutti, Chris Carter und Peter Sleazy Christopherson erfunden. Wie auch beim Punk so sind die Anfänge in den USA wiederzufinden. Der amerikanische Komponist und Künstler Monte Cazazza sprach in den 70-ern als erster von industrial music for industrial people. Und davor hatten Avantgardisten aus der Industriestadt Sheffield ihre Performancekunst schon mit höllischen Maschinensoundtracks untermalt. White Light/White Heat von Velvet Underground dürfte durchaus als Proto-Industrial gelesen werden (von Lou Reeds unterschätztem Meisterwerk Metal Machine Music 1975 gar nicht zu sprechen).

Und dann traten 1977 P-Orridge, Carter, Tutti und Sleazy im Nordosten Englands auf den Plan. The Second Annual Report klang wie eine Zäsur. Im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne. Die sogenannte trente glorieuses, der wirtschaftliche Aufschwung kam 75 zu einem abrupten Ende und 79 begannen die Thatcher-Jahre. Und in diesem gesellschaftlichen und ideologischen Vakuum agierten Throbbing Gristle. Hier ein bisschen Freejazz, da etwas musique concrète à la Stockhausen, Syntheziser und mit gezücktem Mittelfinger ab in den Kreuzzug gegen den Rock. Die Punks und später sogenannten Post-Punks (eine Terminologie, die vom Autor dieser Zeilen verworfen wird) bestritten gleichzeitig diesen Feldzug, wenn auch parallel von der anderen Flanke. P-Orridge und Tutti sind aber im Geiste genau so Punk gewesen wie Lydon und Vicious. Vielleicht sogar mehr. Throbbing Gristle wurden nicht von Malcolm McLaren gecastet. But that‘s another story.

P-Orridge und KollegInnen interessierten sich einen Dreck für Zukunftsvisionen, dystopisch oder utopischer Natur und kehrten ihre Musik lieber gegen sich selbst. Vor allem gegen ihre Körper. Science-Fiction wurden ausgetauscht mit Pornografie und Horror-Szenarien. Oft vermischte sich beides. Mord- und Vergewaltigungsfantasien waren in den ersten Jahren an der Tagesordnung. Okkultismus, Faschismus und dergleichen auch. Diese Ästhetik schwappte in die Live-Auftritte der Band, die laut Berichten zu einschneidenden Lebenserfahrungen der AutorInnen gehören. Performancekunst mit allerlei erotisch pornografischen Fetischen und (Körper-)Flüssigkeiten auf Bühne und Leinwand schockierten und faszinierten Throbbing Gristle zugleich. Übrigens, dieser Name. Throbbing Gristle. Pochender Knorpel. Schmerzlindernd ist der Bandname garantiert nicht. Transgression all the way. Throbbing Gristle müssten eigentlich phänomenologisch gelesen werden.

Die kulturellen, musikalischen und gesellschaftlichen Überschreitungen haben die Bühnenrampe aber angesichts Genesis P-Orridge vor Jahren schon verlassen. Er*sie hat mit Lebenspartnerin Lady J das Pandroginy Project gestartet, das vorsah, dass Orridge (gebürtig Neil Andrew Megson) und J mithilfe von kosmetischen operativen Eingriffen zu einem Wesen jenseits von Individualismus werden. Die von Orridges zweiten wichtigen Band Psychic TV abgeleitete Organisation Thee Temple ov Psychick Youth wurde über die Jahre immer wieder Manipulation und Personenkult um P-Orridge vorgeworfen und auch Cosey Fanni Tutti wusste mit ihrer Autobiografie den Ruf P-Orridges gegen Lebensende in ein trauriges Licht zu rücken. Psychische Manipulation, Egomanie und körperliche Ausschreitungen – alles von P-Orridge dementiert. Ob nun richtig oder falsch, diese Informationen verstärken nur die Konsequenz seiner*ihrer Lebenshaltung und das beweist – auch im Hinblick anderer Persönlichkeiten in Kunst und Film –, dass die Kunst nie, niemals von der Person zu trennen ist.

Tom Dockal
© 2023 d’Lëtzebuerger Land