Doppelstrategie gegen den gefährlichsten Hirntumor

Ersticken und Aushungern

d'Lëtzebuerger Land du 30.10.2015

Könnte man einen Krebs bezwingen, indem der Tumor regelrecht ausgehungert wird? Die Idee hört sich geradezu simpel an, liegt aber durchaus nahe. Zwar ist Krebs eine komplexe genetische Erkrankung, man weiß jedoch, dass Tumorzellen wie gesunde Körperzellen mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt sein wollen. Die so genannte Angiogenese zur Bildung neuer Blutgefäße ist ein ganz elementarer Vorgang im Körper. Ein Tumor macht ihn sich zunutze. Hat er eine bestimmte Größe erreicht, setzt er spezielle Signalmoleküle als „Wachstumsfaktoren“ frei. Sie sorgen dafür, dass ein ganzes Netz aus Blutgefäßen mit dem Tumor mitwächst. Diesen Prozess zu unterbinden, indem die Wirkung der Wachstumsfaktor-Moleküle ausgeschaltet wird, ist schon seit längerem ein zentrales Ziel in der Krebsbehandlung.

Und seit Jahren schon funktioniert die Angiogenese-Hemmung auch, zumindest eine Zeitlang. Der Schweizer Pharmakonzern Roche hat dazu Bevacizumab entwickelt, einen monoklonalen Antikörper. Immer häufiger wird er gemeinsam mit Strahlen- und klassischer Chemotherapie eingesetzt. In Europa ist er bislang zur Behandlung von fortgeschrittenem Darm-, Brust- und Lungenkrebs sowie von Nieren- und Eierstockkrebs zugelassen. Bis zum Frühjahr dieses Jahres hofften Krebsforscher und Onkologen, damit auch Glioblastome, die gefährlichste Sorte Hirntumor, behandeln zu können. Aber dann ergaben zwei groß angelegte klinische Studien, eine in den USA und eine in Europa, dass Bevacizumab gegen diese Krebsart wenig auszurichten vermag und die Überlebensrate der Patienten nicht verbessert.

„Das war ausgesprochen frustrierend“, sagt Simone Niclou, die das Norlux-Labor am Luxembourg Institute of Health (LIH) leitet. Norlux, ein Gemeinschaftslabor des LIH und der Universität Bergen in Norwegen, hat sich auf Hirnkrebsforschung spezialisiert. Mit 13 anderen europäischen Forschungseinrichtungen hatte Norlux am EU-Projekt Angiotargeting teilgenommen. Dabei wurde unter anderem die Wirkung von Bevacizumab auf Glioblastome untersucht.

„Unsere Versuche verliefen gar nicht so schlecht“, erinnert Niclou sich. „Zwar ging die Zahl der für den Tumor nutzbaren Blutgefäße nicht zurück. Die Gefäße wurden aber immerhin kleiner, die Sauerstoff- und Nährstoffversorgung der Tumore verschlechterte sich also.“ Dasselbe wurde auch in den beiden großen Studien beobachtet. Das Tumorwachstum konnte aber nur rund vier Monate lang aufgehalten werden, danach schlug der Krebs massiv zurück. Und weil Bevacizumab ziemlich viele Nebenwirkungen auslöst, waren die vier Monate vorübergehenden Krebswachstumsstopps teuer erkauft.

Frustrierend ist das auch deshalb, weil gegen Glio-blastome keinerlei neuartiges Kraut der Krebsforschung gewachsen ist. Seit 2005 beschränkt die Behandlung sich auf die operative Entfernung der Tumore und eine anschließende Strahlen- oder eine Chemotherapie mit unverändert demselben Medikament. Die Prognose von Glioblastom-Patienten gehört zu den schlechtesten in der Onkologie, die Hälfte der Patienten überlebt nach der Diagnose nur 15 Monate. Denn Glioblastome sind derart aggressiv, dass sie schnell das ganze Hirn befallen können. „Mit einer Operation erwischt man quasi nie den ganzen Tumor“, erklärt die Norlux-Chefin, „und was davon übrig geblieben ist, wächst rasch weiter.“

Hinzu komme die „starke genetische Heterogenität“ von Glioblastomen, sagt Niclou: An verschiedenen Stellen des Tumors gibt es oft viele verschiedene Mutationen. Eine gezielte Therapie anhand bestimmter „Treiber-Gene“, einer der neuesten Schreie der Krebsforschung, ist für Glio-blastome noch Zukunftsmusik. Zum Glück ist nicht jeder Hirnkrebs ein Glioblastom, und die besonders aggressive Krebsart ist mit zwei bis drei Fällen auf 100 000 Menschen in Europa und Nordamerika ziemlich selten.

Bei Norlux soll nun ein neuer Ansatz erprobt werden. Er rührt aus einer Beobachtung her, die bei den Versuchen mit dem Blutgefäße-Hemmer Bevacizumab gemacht wurde: Die Norlux-Forscher hatten festgestellt, dass unter Sauerstoffmangel gesetzte Glioblastome sich an den Angriff mit dem Medikament anzupassen vermögen, indem sie auf eine andere Versorgung umschalten. „Ihr Stoffwechsel kommt plötzlich ganz ohne Sauerstoff aus“, sagt Simone Niclou. Und zu allem Überfluss würden die Tumoren dann sogar invasiver als zuvor und wüchsen schneller in umliegendes gesundes Gewebe hinein.

Das ist nicht nur eine schlechte Nachricht, weil der Krebs dann weiter wächst. Nimmt ein Tumor an Größe zu, ohne zusätzliche Blutgefèäße zu bilden, wird auch seine Beobachtung schwieriger. Die üblicherweise angewandte Methode zur Bildgebung, die Magnetresonanz-Tomografie (RMT oder IRM), macht einen Tumor erkennbar, nachdem ins Blut des Patienten ein Kontrastmittel injiziert wurde (in der obenstehenden Illustration rechts). Lässt der Krebs keine neuen Blutgefäße entstehen, kann es sein, dass sein Weiterwachsen unerkannt bleibt und er im schlimmsten Fall schon das ganze Hirn befallen haben kann, während Onkologen und Radiologen weiter davon ausgehen, es mit einem noch lokal begrenzten Tumor zu tun zu haben (linker Teil der Abbildung).

Ungewöhnlich ist das „Umschalten“ der Energieversorgung von Krebszellen aber nicht unbedingt. Im Grunde alle höheren Organismen nutzen in ihren Zellen die Spaltung von Glukose zur Energiegewinnung. Der Vorgang wird Glykolyse genannt, und er kann entweder unter Anwesenheit von Sauerstoff (aerob) erfolgen oder ohne Sauerstoff (anaerob). Die aerobe Glykolyse ist ergiebiger und deshalb die Energieversorgungsmethode der ersten Wahl für Zellen.

Schon 1956 aber entdeckte der deutsche Biochemiker Otto Warburg, dass Krebszellen sich, um des weiteren Wachsens willen, nicht nur für die energetisch ineffizientere anaerobe Glykolyse „entscheiden“ können, sondern das mitunter sogar tun, wenn Sauerstoff im Überfluss vorhanden ist. Dieser Überlebenstrick von Tumorzellen wird seitdem der „Warburg-Effekt“ genannt und ist einer der vielen, mit denen Krebs mal die körpereigene Abwehr überlistet, mal einem Behandlungsversuch entgeht.

An dieser Stelle will Norlux nun ansetzen. Zur Glykolyse sind in den Zellen bestimmte Enzyme nötig – spezielle Proteine, die die chemischen Reaktionen zur Glukosespaltung beschleunigen und steuern. Die Bildung dieser Enzyme wollen die Norlux-Forscher genetisch unterdrücken. In Zellkulturen und in Tiermodellen funktioniere das schon, berichtet Niclou. Norlux’ Plan lautet, ein Glioblastom durch Bevacizumab zu ersticken und es gleichzeitig auszuhungern, indem die alternative, anaerobe Energieproduktion in den Tumorzellen unterbunden wird.

Wie schnell das Verfahren, das im Labor zu funktionieren scheint, so weiterentwickelt werden kann, dass es im klinischen Einsatz erprobt werden könnte, ist allerdings die Frage. Sieben Gene, die mit der Produktion der Glykolyse-Enzyme im Zusammenhang stehen, hat Norlux im Frühjahr dieses Jahres beschrieben. Zwei davon scheinen besonders aussichtsreich für einen Eingriff. Ein spezifisches Protein, das als Biomarker dienen und zeigen könnte, wie wirksam der Warburg-Effekt unterdrückt wird, hat Norlux ebenfalls schon ausfindig gemacht.

Gene auszuschalten oder stillzulegen, im Fachjargon knockdown genannt, ist jedoch alles andere als Standard in der klinischen Praxis. Als „Gentherapie“ bezeichnete Eingriffe beginnen erst, und es stellen sich noch praktische Probleme, aber auch die einen oder anderen Sicherheitsbedenken. Simone Niclou weiß: „Aus dem Mechanismus zur Enzym-Unterdrückung müsste ein Medikament entwickelt werden, das sicher genug ist, um es einem Patienten zu verabreichen.“ Dazu müsste Norlux eine Pharmafirma gewinnen. Und dann würde erneut eine Prozedur aus Medikamentenentwicklung und aufwändigen klinischen Versuchen beginnen, von der niemand im Voraus wissen kann, ob sie womöglich frustrierend endet.

Peter Feist
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