Im Schatten von Corona bereitet die EU die Freigabe der Genom-Editierung vor

Gentechnik 2.0 ohne Kontrolle?

d'Lëtzebuerger Land du 22.05.2020

Never let a good crisis go to waste… Wenn die Öffentlichkeit beschäftigt ist, lassen sich profitable, aber unpopuläre Vorhaben verwirklichen. Und was könnte unbeliebter sein als Gentechnik? Ob sie ohne Staatsgelder profitabel ist, weiß man nicht so genau; allein gegen Monsanto laufen fast 50 000 Klagen. Auf jeden Fall trifft es sich gut, dass in Europa gerade jetzt die Weichen für das künftige Gentechnik-Recht gestellt werden: Demonstranten haben überwiegend Ausgangssperre.

Schon seit Jahren versprechen Gentech-Lobbyisten bessere Ernten und großartige Gewinne. Pflanzen, die Hitze, Trockenheit, Klimawandel widerstehen. Weniger Pestizide, weniger Dünger- und Wasserverbrauch. Preiswerte, aber gesunde Nutztiere. Auch die Bekämpfung des Hungers in Afrika sei ihnen ein ganz arges Anliegen. Außerdem seien neue Verfahren wie CRISPR/Cas, TALEN oder Zinkfinger-Nukleasen, die unter dem Begriff „Genom-Editierung“ zusammengefasst werden, viel besser als klassische Gentechnik: zielgerichtet, präzise, sicher – und von natürlichen Mutationen oder konventioneller Züchtung nicht zu unterscheiden.

Trotz aller PR bleibt die Ablehnung der Gentechnik in Europa erstaunlich stabil. Nicht nur in Österreich, wo der Handel „Gentechnikfreie Wochen“ feiert, erreichen Gegner 70 Prozent und mehr. Immer mehr Länder führen Label für Produkte „ohne Gentechnik“ ein, zuletzt Polen. Bei Umfragen sagt die Mehrheit: Ja zu Gentech-Medikamenten aus dem Labor – Nein zu Gentechnik in Landwirtschaft und freier Wildbahn. Das ist auch ungefähr die Rechtslage.

Am 25. Juli 2018 entschied der Europäische Gerichtshof zur allgemeinen Überraschung, dass neue Gentechnik wie alte behandelt werden soll: Durch Genom-Editierung erzeugte Organismen sollen dem Gentechnikrecht unterliegen, also den etablierten EU-Regeln für Zulassung, Kennzeichnung, Rückverfolgbarkeit und Haftung. De facto ist das ein Verbot: Als „gentechnisch verändert“ gekennzeichnete Lebensmittel sind praktisch unverkäuflich. Öffentliche Standortregister ermöglichen es Gegnern, Versuch und Anbau im Freiland zu zerstören.

Firmen, die bereits die Zulassung von GE-Pflanzen beantragt hatten, wurden von dem EuGH-Urteil kalt erwischt. Die EU-Kommission war konsterniert. Der EU-Rat, also die Regierungen der EU-Staaten, beauftragte die Kommission, bis April 2021 eine „Untersuchung“ zum „Status neuartiger genomischer Verfahren im Rahmen des Unionsrechts“ vorzulegen und Änderungen vorzuschlagen. Luxemburg, Polen, Ungarn und drei weitere Länder betonten dabei, dass der Schutz von Gesundheit und Umwelt „besondere Vorsicht“ erfordere. Dagegen verlangten die Niederlande und Spanien, bei der Überprüfung von Gentechnik nicht nur das Vorsorgeprinzip, sondern auch „Verhältnismäßigkeit“ zu beachten.

Ist dieser Vorstoß ein erster Schritt zur Aufweichung des EU-Gentechnikrechts? Dafür trommeln vor allem die vier Agrarchemie- und Saatgut-Konzerne Dow-Dupont/Corteva, Bayer/Monsanto, Syngenta und BASF, aber auch Wissenschaftler, die oft gemeinsam mit Gentech-Firmen Patente verwerten wollen.

Die Herausforderung für Lobbyisten: Genom-Editierung nicht als Gentechnik einstufen oder gleich alle Regeln für Eingriffe ins Erbgut lockern – gleichzeitig aber die Patentierbarkeit für Gentech-Organismen erhalten. Neue Verfahren wie CRISPR/Cas sind im Prinzip viel billiger und zugänglicher als ältere Techniken. Wenn jeder Biohacker oder Bauer seine eigenen Gewächse basteln dürfte, wäre das kaum im Sinn der Industrie. Der Profit hängt weitgehend von der Regulierung ab.

Bereits im vergangenen Sommer veröffentlichte das belgische Lifesciences-Institut VIB ein „Open Statement for the use of genome editing for sustainable agriculture and food production in the EU“. Bisher haben 191 Professoren und Institutsleiter aus 25 Ländern unterschrieben, davon 41 aus Deutschland, aus Frankreich fünf, aus Luxemburg kein einziger. Darin heißt es, Genom-Editierung sei „entscheidend für Wohlstand und Lebensmittelsicherheit“. Das EuGH-Urteil sei „schlicht zu kompliziert und zu teuer, um befolgt zu werden“, es reflektiere „nicht mehr korrekt den Stand der Wissenschaft“. Strenge Auflagen für Gentechnik seien ein „unvernünftiges regulatorisches Hindernis“.

Bei einer Journalisten-Konferenz, unter anderem von Bayer und BASF gesponsert, präsentierten Ende 2019 die größten deutschen Wissenschaftsorganisationen gemeinsame Forderungen: Organismen, in die „keine artfremde genetische Information eingefügt ist“ (aka Genom-Editierung) sollten wie Mutagenese vom Gentechnikrecht ausgenommen werden. Wie in den USA sollten auch in Europa die meisten Gentech-Pflanzen unreguliert angebaut und ohne Kennzeichnung vermarktet werden dürfen. Längerfristig brauche es einen „völlig neuen Rechtsrahmen“, der sich nicht mehr auf die Technik, sondern auf die Produkte beziehen soll. Der heutige Ansatz sei „wissenschaftlich nicht begründbar“.

Gentech-Gegner retournieren den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Sie lassen ebenfalls Professoren aufmarschieren und fordern eine strengere Regulierung. Im Januar wurde die Studie „Risk Assessment of Genetically Engineered Organisms in the EU and Switzerland“ vorgestellt: Finanziert von der Schweizer Mercator-Stiftung und koordiniert vom Münchner Testbiotech-Institut, hatte ein Dutzend Wissenschaftler das EU-Zulassungsverfahren unter die Lupe genommen. Ihnen zufolge werden Gentech-Importe mangelhaft kontrolliert, auf der Basis von Herstellerangaben, ähnlich wie Autoabgase: „Die in Feldversuchen getesteten GV-Pflanzen entsprechen nicht denjenigen, die tatsächlich importiert werden.“

Für unschöne Details interessiert sich die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen eher nicht. Ihre aktuellen Projekte sind ein „Green Deal“ und eine neue Landwirtschaftsstrategie. Eine Präsentation, die im November geleakt wurde, erwähnte ausdrücklich „neue genomische Techniken“. Nachrichtenagenturen meldeten bereits, neue Gentechnik solle „die Nahrungsmittelproduktion an den Klimawandel anpassen“. Die deutsche Agrarministerin Julia Klöckner sekundierte, es brauche eine „differenziertere“ Zulassung und „mehr Offenheit und Fortschritte in der Pflanzenzucht“. Die EU-Kommission aber geht nun vorsichtiger vor: Die veröffentlichte Version des „Green Deal“ vermeidet Reizwörter wie Gentechnik. Vorerst ist auch keine Rede mehr davon, das im EU-Recht verankerte Vorsorgeprinzip zu ersetzen durch ein „Innovationsprinzip“, das sich Lobbyisten der Chemieindustrie ausgedacht haben.

Die EU-Kommission, die jetzt das Gentechnikrecht „untersucht“, veranstaltete am 10. Februar eine erste Anhörung, um das Studiendesign zu besprechen. Das Resultat einer Konsultation hängt durchaus vom Fragebogen ab. Laut Corporate Europe Observatory waren unter den 94 geladenen Verbänden nur elf Umwelt- und Verbraucherorganisationen – aber gleich mehrfach Vertreter der Gentech-Konzerne. Lediglich drei Verbände sprachen für die Bio-Landwirtschaft, die von einer Verwässerung des „Ohne Gentechnik“-Labels massiv getroffen würde. Eine „derart voreingenommene Konstellation“ lasse befürchten, dass die Studie „zu einem vorher festgelegten Ergebnis führt“, mault die Aktivistin Nina Holland.

Sechs Biotech-Studenten der Universität Wageningen geht das alles zu langsam. Unter dem Slogan „Grow Scientific Progress“ haben sie für die Freigabe der Genom-Editierung eine europaweite Bürgerinitiative zur „Aktualisierung“ des EU-Rechts gestartet. Bis zum 25. Juli 2020 müssten sie eine Million Unterschriften sammeln. Bisher haben sie rund 8 000, davon in Luxemburg, wo 4 500 Unterschriften nötig wären, immerhin sechs. Auf konventionellen demokratischen Wegen hat Gentechnik offensichtlich keine Chance. Das macht aber wohl nichts. Im Ausnahmezustand entscheiden innovative Experten.

„Frankenstein-Food“ vs. „innovative Präzisionszüchtung“

So umstritten wie Eingriffe in das Erbgut sind auch das „Wording“ und das „Framing“ dazu. Gegner sprechen von „Manipulationsmethoden“, betonen „Gefahren für Umwelt und Verbraucherschutz“, warnen vor „Patentkartellen“ und „Machtkonzentration“. Befürworter vermeiden das Wort „Gentechnik“. Lieber sprechen sie von „innovativer biobasierter Forschung“. Leidlich neutral sind diese Begriffe:

Klassische Gentechnik ist bislang das wichtigste Gentech-Verfahren: Einzelne artfremde Gene werden einem Empfängerorganismus injiziert und an zufälliger Stelle im Genom eingebaut. Diese „Transgenese“ wird vom EU-Recht seit 2001 reguliert. Derzeit wird in der EU nur eine gentechnisch veränderte Pflanze angebaut: MON810, ein insektengiftiger Mais von Bayer/Monsanto in Spanien. Luxemburg macht, wie die meisten EU-Staaten, von einer Opt-Out-Möglichkeit Gebrauch und verbietet den kommerziellen Anbau. Für den Import in die EU sind dagegen bereits rund 80 gentechnisch veränderte Pflanzen zugelassen. Besonders aus Amerika werden große Mengen Gentech-Soja und Gentech-Mais eingeführt, vor allem als Futtermittel.

Bei der Mutagenese werden Organismen radioaktiv bestrahlt oder mit Chemikalien behandelt, was ungerichtete, zufällige Mutationen auslöst. Unerwünschte Mutanten werden weggeworfen, interessante Eigenschaften in vorhandene Sorten eingekreuzt. Bis 2017 sind schätzungsweise über 3 200 Mutagenese-Pflanzensorten auf den Markt gekommen. Der EuGH hat sie im Juli 2018 als „gentechnisch veränderte Organismen“ eingestuft, aber von den Vorschriften des Gentechnik-Rechts ausgenommen: keine Kontrolle, keine Kennzeichnung.

Genome Editing ist ein Sammelbegriff für rund 20 neue molekularbiologische Verfahren, die zellinterne Reparaturmechanismen ausnutzen, um Erbgut gezielter und präziser als bisher zu verändern. Mit „Gen-Scheren“, etwa dem seit 2012 patentierten CRISPR/Cas-Verfahren, lassen sich einzelne Gene oder ganze Gen-Sequenzen austauschen oder ausschalten. GE-Soja und GE-Lachse werden bereits vermarktet, sind in der EU allerdings nicht zugelassen. Besonders umstritten sind Gene Drive-Techniken: Mutationen werden nicht nur an die Hälfte der Nachkommen vererbt, sondern an alle – gezielte Evolution im Zeitraffer. Damit könnten ganze Spezies verändert oder ausgerottet werden.

In der Praxis werden alte und neue Gentechnik-Verfahren vermischt. Das Münchner Institut für unabhängige Folgeabschätzung in der Biotechnologie führt zu EU-Zulassungen eine Datenbank: www.testbiotech.org.

Nachrichten aus der Welt der Gentechnik:
– Pro: www.transgen.de
– Contra: www.keine-gentechnik.de

Martin Ebner
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