Bildung

Angewandte Menschenkunde

d'Lëtzebuerger Land du 09.08.2019

„Freiheit für den Geist, Gleichheit für das Recht, Brüderlichkeit für das Wirtschaftsleben!“ In der turbulenten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg agitierte Rudolf Steiner unermüdlich Arbeiterräte und Volksversammlungen. In Stuttgart hielt er im Frühjahr 1919 fast jeden Abend Vorträge zur „Dreigliederung des sozialen Organismus“ jenseits von Kapitalismus und Kommunismus: Der Staat müsse auf Demokratie, die Wirtschaft auf Solidarität, Kultur und Bildung aber auf Liberalismus aufgebaut werden.

Rudolf Steiner wurde 1861 in Kroatien geboren. Der Sohn eines Eisenbahners studierte Natur- und Geisteswissenschaften in Wien, in Rostock promovierte er zu Erkenntnistheorie, dann editierte er die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes. Nicht weniger als die Reform des ganzen Lebens nahm sich Steiner vor: von biologisch-dynamischer Landwirtschaft bis Medizin, von Erziehung bis Kunst. Dazu entwickelte er aus christlicher Mystik, deutschem Idealismus und Naturwissenschaft, besonders der Evolutionstheorie, eine eigene Weltanschauung: die „Anthroposophie“.

Die Organisation von Unternehmern, Arbeitern und Konsumenten in selbstverwalteten Genossenschaften scheiterte rasch am Widerstand von Parteien und Gewerkschaften. Das Proletariat gehorche den Funktionären folgsamer als die Katholiken dem Papst, klagte Steiner. In der Folge wandte er sich Schulfragen zu. Auch da hatte es ihm die Zahl Drei angetan: Hirn, Herz und Hand seien gleichermaßen zu bilden, Denken, Fühlen und Wollen – also intellektuelle, künstlerische und praktische Fähigkeiten.

Das Unternehmerpaar Emil und Berta Molt, sozial engagiert und anthroposophisch bewegt, lud Steiner ein, in Stuttgart den Arbeitern ihrer Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik seine pädagogischen Vorstellungen vorzutragen. Am 23. April 1919 erklärte Steiner im überfüllten Tabakauslesesaal: Das Geistesleben sei „nicht für eine Klasse da, sondern für alle Menschen gleich“. Das Bildungswesen müsse emanzipiert werden, „damit es nicht mehr Diener der Staats- und Wirtschaftsordnung ist“. Es sei nicht Aufgabe der Schule, „brauchbare Arbeitsmaschinen“ zu liefern. Sondern individuelle Förderung: „Was ist im Menschen veranlagt, und was kann in ihm entwickelt werden?“

Nahe seiner Fabrik kaufte Emil Molt ein ehemaliges Gasthaus, um eine Reformschule einzurichten. Den ersten zwölf Lehrern gab Steiner einen zweiwöchigen Kurs in „Menschenkunde“. Esoterische Theorien, der Mensch „gebäre“ sich alle sieben Jahre neu und auf den „Ätherleib“ folge der „Astralleib“, wurden operationalisiert: Kinder würden sich phasenweise entwickeln und seien je nach Alter unterschiedlich zu behandeln. Zahnwechsel und Pubertät seien dabei wichtige Zäsuren. In der Unterstufe komme es auf die Förderung von Fantasie und Geschicklichkeit an; abstrakte Wissenschaft sei für die Oberstufe. Lehrer müssten in erster Linie sich selbst erziehen – und dürften „nicht verdorren und nicht versauern“.

Am 7. September 1919 begann auf der Stuttgarter Uhlandshöhe die „Einheitliche Volks- und Höhere Schule“ mit acht Klassen den Unterricht. Von den 256 Schülern waren drei Viertel Arbeiterkinder. Deren Schulgeld zahlte Molt persönlich weiter, als seine Zigaretten-Fabrik in der Weltwirtschaftskrise unterging.

Von Schwaben aus verbreitete sich das Modell. In Dornach bei Basel, wo Steiner im Jahr 1925 starb, entstand die erste Waldorf-Schule außerhalb Deutschlands. Es folgten Den Haag, London, Budapest, Oslo und New York. Die Nazis verboten dann die „individualisierte, nach dem Einzelmenschen ausgerichtete Erziehung“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Waldorf-Schule in Dresden von den Kommunisten umgehend wieder geschlossen. In Westdeutschland entstanden 19 neue Steiner-Schulen, zuerst für Arbeiterkinder in Bochum, Wanne-Eickel, Dortmund und Essen. Darauf wurde ein Gründungsstopp verhängt, weil geeignete Lehrer fehlten. Gegenüber „1968ern“, die einzelne Reform-Ideen aufgriffen, betonte die Waldorf-Bewegung den Wert von „natürlicher Autorität“.

Um 1980 nahm die Verbreitung der Waldorf-Schulen neuen Schwung. Zum Beispiel in Luxemburg: Professor Ernst Schuberth von der „Freien Hochschule für Anthroposophische Pädagogik Mannheim“ stieß mit einem Vortrag im Bonneweger Eisenbahnercasino die Gründung eines „Veräin fir Waldorfpädagogik“ an. Im September 1983 eröffnete auf dem Limpertsberg ein Waldorf-Kindergarten, ein Jahr später zogen neun Erst- und neun Zweitklässler ein. Heute unterrichten dort rund 70 Lehrer an die 430 Schüler.

Der Fall des Kommunismus und eine Unesco-Wanderausstellung öffneten Osteuropa und Asien für Steiners Ideen. Der Bund der Freien Waldorfschulen, der über Namen und Marke wacht, verzeichnet derzeit 1 911 Kindergärten und 1 182 Schulen in rund 80 Ländern. Die meisten Rudolf-Steiner-Schulen gibt es in Deutschland (245), den USA (124) und den Niederlanden (109). Eine Handvoll hat sich sogar in Frankreich, Russland und China eingenistet. Die Beziehungen zum Staat sind oft uneasy: Vietnam erlaubt kein Holzspielzeug, nur Plastik. In Griechenland dürfen Klassenlehrer ihre Schüler nur zwei Jahre begleiten, nicht acht. Eurokraten wollen die Bildung im Zeichen von Pisa vereinheitlichen – die Waldorf-Bewegung hält das für „weltfremd“, es brauche „Freiräume“.

Zum Jubiläum wurden dieses Jahr die Konferenzen neu herausgegeben, mit denen Steiner die ersten Lehrer gecoacht hatte (Rudolf-Steiner-Verlag, 1 347 Seiten). Nana Göbel hat eine dreibändige Waldorf-Geschichte geschrieben (Verlag Freies Geistesleben, 2 107 Seiten). Durch Bio-Supermärkte tourt die Fotoausstellung Einblicke weltweit. In Stuttgart, wo rund um Freie Hochschule, Eurythmeum und GLS-Bank eine ganze Anthroposophen-Kolonie gewachsen ist, gibt es am 7. September einen Festakt. Daran schließt sich ein Lehrer-Kongress an: drei Tage zu Geist, Seele und Leib. Die Hauptparty der Waldorf-Bewegung soll aber in Berlin gefeiert werden, am 19. September im Tempodrom.

In Deutschland wird geschätzt, dass nun Lehrer staatlicher Schulen ein Drittel aller Waldorf-Eltern stellen. Der Rest sind meist Akademiker. Ein Krankenhaus, in das Ärzte ihre eigenen Kinder schicken, ist wohl nicht so schlecht? Auch Unternehmer-Sprösslinge zieht es zuweilen zu Pastellfarben und organisch-expressive Linien, zum Beispiel den Porsche-Clan in die Stuttgarter „Uhle“. Die Arbeiterkinder, mit denen alles angefangen hat, sind der Bewegung dagegen größtenteils abhanden gekommen. Ein Grund dafür ist der hohe Preis der Unabhängigkeit: In Luxemburg etwa sind pro Monat ab 410,70 Euro Schulgeld zu zahlen.

Rudolf Steiner muss das geahnt haben. In seinem Vortrag in der Zigaretten-Fabrik ging er auf Einwände gegen sein Projekt ein: „Wenn das Geistesleben befreit werden und nicht Staatszwang die Kinder in die Schule führen soll, sondern jeder seine Kinder in die Schule schicken kann, die er wählt, da werden doch wieder die Höhergestellten ihre eigenen Schulen begründen. Die alte Ständeschule wird wieder auftauchen ...“ Das seien aber nur „konservative Vorurteile“, war Steiner damals optimistisch: „Darüber muss man hinauskommen.“

Die Waldorf-Revolution

Rudolf Steiners pädagogische Ideen waren im Jahr 1919 unerhört. Das sind sie oft auch heute noch:

– Das Ziel der Erziehung sind freie Menschen, die bewusst mit sich selbst, pflegend mit der Natur und solidarisch miteinander umgehen
– Eine Waldorf-Schule ist keine staatliche Veranstaltung, sondern ein unabhängiger, von Eltern und Lehrern getragener Verein
– Gemeinschaftsschule für alle Kinder: Förderung statt Auslese. Notengebung nur insofern, als für staatliche Abschlüsse nötig (zum Beispiel für das Abitur)
– Koedukation von Jungen und Mädchen
– Stabiler Klassenverband bis zur Oberstufe; kein Sitzenbleiben. Klassenlehrer spezialisieren sich auf eine Gruppe „werdender Menschen“, nicht auf ein Fach
– Unterricht in „Epochen“: Jeweils mehrere Wochen lang wird ein Hauptthema gründlich behandelt
– Möglichst nichts vorkauen: Kinder sollen ihre Schulbücher selber schreiben und malen
– Betonung von Kunst, Musik und Theater, Handarbeit, Handwerk und Technologie. Praktika in Landwirtschaft und Gartenbau, in Firmen und sozialen Einrichtungen
– Fremdsprachenunterricht von Anfang an
– Kein herkömmlicher Religionsunterricht. Wer will, kann an anthroposophischen „Handlungen“ und anderen Ritualen teilnehmen
– Bewegung und Kunst vereint im waldorfeigenen Fach „Eurythmie“: Hülle dich in wallende Gewänder und tanze deinen Namen
– Selbstverwaltung der „Lehrer-Republik“: kein Rektor, keine Hierarchie, nur milde Gehaltsunterschiede
– Zum Kollegium soll ein Schularzt gehören, der möglichst auch selbst unterrichtet
– Architektur und Einrichtung der Schule sollen zu den Kindern passen und Bewegung erlebbar machen: möglichst kein Raum soll wie der andere sein
– Eltern sollen sich aktiv an der Erziehung der Kinder beteiligen, nicht nur finanziell. me

Die „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ geben die Liste aller Waldorf-Einrichtungen heraus: www.freunde-waldorf.de

„Learn to change the world“ ist das Motto des Jubiläumsjahrs: www.waldorf-100.org

Martin Ebner
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