Leitartikel

Maßnahmenstaat in die Verlängerung

d'Lëtzebuerger Land vom 12.06.2020

Es bestehe die Gefahr, dass „wir anfangen, in Ausnahmezuständen“ zu denken, warnte Strafrechtsprofessor Stefan Braum von der Uni Luxemburg diese Woche in einem RTL-Interview – und es sieht derzeit so aus, als sei der Gewöhnungseffekt an eine kaum kontrollierte Exekutive mit weitreichenden Befugnissen bereits eingetreten.

Denn außer Braums kritischen Überlegungen zu den Covid-19-Gesetzen, mit der die Regierung nach dem Ende des Ausnahmezustands handlungsfähig gegenüber dem Coronavirus bleiben will, ist der große Aufschrei bisher ausgeblieben. Die Opposition, die anfangs lautstark darauf gepocht hatte, als Parlament endlich wieder vollumfänglich in die Gesetzesarbeiten einbezogen zu werden, äußerte bisher wenig Fundamentalkritik. Zum Datenschutz verlangt der juristische Sprecher der CSV, Laurent Mosar, Daten von Covid-19-negativ Getesteten sollten nicht, wie im Entwurf vorgesehen, nach sechs Monaten anonymisiert werden, sondern früher.

Strafrechtler Braum indes fordert: Die Daten gehörten komplett gelöscht. Offenbar hat das Feedback der Opposition in den zuständigen Justiz- und Gesundheitsausschüssen wenig Eindruck hinterlassen, denn die Änderungsvorschläge, die die Regierung diese Woche vorlegte, präzisieren zwar einige Begriffe und Sachverhalte, aber die zwei heikelsten Punkte aus grundrechtlicher Sicht, besagter Datenschutz und die vorgesehene Zwangseinweisung von renitenten Covid-19-Positiven, die sich trotz Anordnung der Gesundheitsbehörden weigern, in Quarantäne zu gehen, und so eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen, sind nach wie vor im Entwurf enthalten. Die Menschenrechtskommission kritisiert, wie Braum, in ihrem diese Woche vorgestellten Gutachten den „tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen“.

Man muss ziemlich geschichtsvergessen sein, um sich nicht zu erinnern, welch traurige Vergangenheit das Luxemburger Gesundheitswesen mit Zwangseinweisungen hat. Erst mit dem Gesetz von 2009 wurden längst überfällige Rechtsgarantien für von psychiatrischen Zwangseinweisungen Betroffenen verankert.

Im Kontext eines nur einen Monat gültigen Maßnahmengesetzes die Zwangshospitalisierung als Instrument zur Corona-Bekämpfung festzuschreiben, weil das nach dem 1980-er-Gesetz über die Gesundheitsdirektion möglich ist, und dabei weniger Rechtsgarantien vorzusehen als bei der Zwangspsychiatrisierung, zeugt von wenig Einfühlungsvermögen. Zumal eine Notwendigkeit nicht einmal erwiesen ist. Der einzige Covid-19-Fall, über den RTL berichtete, betrifft einen positiv getesteten Bewohner der Wanteraktioun, der sich weigerte, sich in Quarantäne zu begeben, und wo kurzzeitig im Raum stand, ihn gegen seinen Willen in die geschlossene Psychiatrie einzuweisen. Allerdings wehrten sich die Psychiater erfolgreich dagegen.

„Ich bin mit dem Text nicht zufrieden“, sagte Xavier Bettel am Mittwochabend vor Journalisten. Vor allem bei den Rechtsgarantien und hinsichtlich der Menschenrechte sieht der Premierminister Nachbesserungsbedarf. Seine Aussage überrascht: Wer könnte den Text ändern lassen, wenn nicht der Chef der Dreierkoalition selbst?

Dass er als Jurist genau um die Grundrechtsproblematik einer Exekutive im Notstandsmodus mit ausgedehnten Befugnissen weiß, hatte Bettel bewiesen, als er sich vor einem Monat auf einer Pressekonferenz wie aus heiterem Himmel sorgenvoll zur ausgesetzten Versammlungsfreiheit äußerte – am Tag darauf verabschiedete seine Regierung mitten im Corona-Ausnahmezustand, trotz Protesten, als Demonstrationen wegen Covid-19 jedoch verboten waren, das umstrittene Ceta-Handelsabkommen.

Ines Kurschat
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