Blau-Rot-Grün will die Prozesskostenhilfe reformieren – und die Ausgaben bremsen

Saving justice

d'Lëtzebuerger Land vom 12.12.2014

Die Kürzung wäre ein drastischer Einschnitt: Von einem Rekordhoch von fast 6,5 Millionen Euro im Jahr 2013 auf nunmehr nur noch 3,5 Millionen will die blau-rot-grüne Koalition die Ausgaben für die Prozesskostenhilfe, die assistance judiciaire, drücken. Will, denn obwohl die Beratungen zu Ende sind, ist der Haushalt 2015 noch nicht verabschiedet. Ob eine Kürzung von 3,5 Millionen im Haushaltsentwurf 2015 realistisch sind, ist unklar: Bis zuletzt lag keine Analyse vor, die die Entwicklung der Prozesskostenhilfe untersucht hätte. Die Anwaltskammer, die die Staatsgelder verwaltet und über sie wacht, sagt, sie habe keine. Und auch der Geldgeber, das Justizministerium, lässt ausrichten, der zuständige Sachbearbeiter sei im Urlaub. Man könne die Statistiken nicht herausgeben, „weil sie noch bearbeitet werden müssen“. Ähnlich wortkarg in Sachen Prozesskostenhilfe war der bis Montag im Ausland weilende grüne Justizminister Félix Braz gegenüber dem parlamentarischen Justizausschuss vor einem Monat gewesen, als er seine Haushaltspläne den Abgeordneten vorstellte. Außer dem Hinweis, dass die Regierung daran denke, die Entschädigungen für Anwaltsreferendare von 400 auf künftig 150 Euro zu senken, um so rund 660 000 Euro einzusparen, teilte Braz leidglich mit, eine Arbeitsgruppe von Anwaltskammer, Staatsanwaltschaft und Ministerium arbeite an einer Reform der staatlichen Beihilfe. Ansonsten: Stillschweigen.

Die Zurückhaltung erklärt sich durch die Brisanz: Schon im Oktober 2012 hatte der damalige Justizminister François Biltgen (CSV) vorgeschlagen, die Prozesskostenhilfe von derzeit 87 Euro pro Anwalts-Beratungsstunde auf 58 Euro zu senken, eine Kürzung um 25 Prozent. Das Land, das dies meldete, lenkte so das Scheinwerferlicht auf ein Thema, das sonst eher ein Schattendasein fristet, für eine gerechte Justiz und für einen funktionierenden Rechtsstaat aber das A und O ist: Mit der Prozesskostenhilfe ermöglicht der Staat Menschen mit unzureichendem Einkommen, die also RMG beziehen, verschuldet sind oder sich aus anderen Gründen keinen Anwalt leisten können, trotzdem einen juristischen Beistand ihrer Wahl. Der staatliche Zuschuss stellt sicher, dass alle Bürger Zugang zur Justiz haben und ihre Rechte einklagen können. Und da will die Regierung sparen?

Biltgen begründete seinen Vorstoß damals mit dem angeblichen Missbrauch. 2012 hatte sich der Haushaltsposten für die Hilfe seit 2002 mehr als verdoppelt, Tendenz steigend. Eine detaillierte Analyse aber, wie groß der vermeintliche Missbrauch war und welche Ursachen noch für die Kostenexplosion in Frage kämen, legte der Minister nie auf den Tisch. Das sei eher eine „empirische Beobachtung“ gewesen, gibt der LSAP-Abgeordnete und Anwalt Franz Fayot zu. Die Entrüstung bei der Anwaltskammer und unter Anwälten war groß. Vor allem jene, die sich auf Asyl-, Familien- oder auf Strafrecht spezialisiert hatten, warnten, ihre Mandanten würden durch die Sparmaßnahme hart getroffen. Eine Facebook-Gruppe mit dem Namen Saving Justice wurde gegründet, der damalige Vorsitzende der Anwaltskammer René Diederich schrieb einen Brief an den Minister, Abgeordnete der Opposition mobilisierten sich – daraufhin zog Biltgen seinen Vorschlag wieder zurück.

Das war vor zwei Jahren. Seitdem ist es um die Hilfe still geworden, dabei plant die aktuelle Regierung eine viel drastischere Kappung der Hilfe als ihre Vorgängerin: Wenn die Abgeordneten am 18. Dezember den Haushalt für 2015 verabschieden, käme das einer Kürzung von 45 bis 50 Prozent gegenüber 2013 gleich. Im Schlussbericht von Budgetberichterstatter Franz Fayot taucht die Prozesskostenhilfe nicht auf, also scheint es bei der 3,5-Millionen-Begrenzung zu bleiben. Kein Wunder, dass Anwälte alarmiert sind. Zumal bislang auch nicht viel Ermutigendes aus der Reform-Arbeitsgruppe an die Öffentlichkeit dringt, außer dass ein Bezahlsystem mit Fallpauschalen im Gespräch ist. Jeannot Berg vom Justizministerium betont zwar, die Regierung plane eine Neuorientierung, die „das Gleichgewicht zwischen dem Recht auf einen Zugang zur Justiz und einer explodierenden Kostenentwicklung wiederherstellen“ soll. Anwälte, die viele Prozesshilfefälle haben, berichten aber schon jetzt von erheblichen Problemen bei der Bewilligung: Obwohl die Rechtsanwaltskammer seit 2012 vier Mitarbeiter für Verwaltung und Abrechnung der Hilfe eingestellt hat und das System informatisiert wurde, dauere es heute länger, bis ein Antrag bearbeitet ist. Es gebe mehr Ablehnungen, oft ohne dass die Gründe nachvollziehbar seien. Eingereichte Anträge kämen zurück, weil Belege fehlten. Das soll sich immerhin ändern: Die Kammer, die bisher Dokumente von Sozialamt, nationalem Solidaritätsfonds et cetera aus Datenschutzgründen nicht automatisch überliefert bekam, soll sie künftig schneller erhalten.

„Manchmal vergehen Monate, bevor ich weiß, ob der Antrag meines Mandanten auf Prozesskostenhilfe bewilligt wird“, schildert ein Anwalt. Gerade für diejenigen, die einen Großteil ihrer Arbeit via Prozesskostenhilfe finanzieren, weil sie beispielsweise Flüchtlinge oder Kinder vertreten, bedeuten die langen Wartezeiten eine hohe Belastung: „Ich muss von den 87 Euro Stundenlohn nicht nur meine Krankenversicherung bezahlen, sondern auch die meiner Angestellten, mein Büro, meine Kopien, alles“, so ein anderer Anwalt, der seinen Namen ebenfalls nicht in der Zeitung lesen will. Weil mit Rechtsverfahren in der Regel hohe Kosten verbunden sind, gehen immer weniger Anwälte das Risiko ein, sich auf die Prozesskostenhilfe zu verlassen – mit gravierenden Folgen für die Einkommensschwachen, wie Alleinerziehende, geschiedene Frauen, Ex-Häftlinge, Arbeitslose, RMG-Empfänger... Vorwürfe machen die Runde, dass obwohl die Reformvorschläge noch nicht bekannt sind, bereits an Sparschrauben gedreht werde, die Rechtsanwaltskammer schon jetzt die Hilfe sehr restriktiv vergebe – und so einer Zwei-Klassen-Justiz Vorschub leiste.

Bei der Kammer antwortet eine nervöse Sachbearbeiterin zunächst nur: Man halte sich ans Gesetz, zu politischen Fragen könne man sich nicht äußern. Schließlich meldet sich der Präsident der Kammer: Er könne nicht behaupten, dass die Beobachtungen der Anwälte nicht zuträfen, bestätigt Rosario Grasso umständlich den Eindruck seiner Kollegen. Man wolle sich nicht dem Verdacht aussetzen, Missbrauch zu unterstützen, deswegen prüfe man alle Anträge gründlich. Von 15 018 Anträgen, die zwischen dem 1. Mai 2012 und dem 5. Dezember 2014 eingereicht wurden, wurden 9 069 durch die Kammer bewilligt und 1 986 abgelehnt, so eine interne Statistik. Die anderen sind in der Prüfung oder es läuft ein Einspruchverfahren. Die meisten Anträge wurden abgelehnt, weil der Antragsteller die Kriterien der Bedürftigkeit nicht erfüllt hat (1 689 Fälle). Vergleiche mit der Zeit von 2012 sind nicht möglich: Die Kammer hat die Datensätze erst seit 2012 digitalisiert.

Die mangelnde Transparenz bei der Prozesskostenhilfevergabe kritisieren Anwälte seit Jahren. „Mir ist keine Analyse bekannt, die fundiert untersucht hätte, wer von der Hilfe profitiert, wie sich die Ausgaben entwickeln – und womit das zusammenhängt“, so eine Anwältin aus der Hauptstadt, die anonym bleiben will. In einem Länderbericht zu den Europäischen Justizsystemen von der Kommission für Rechtswirksamkeit des Europarats in Straßburg von 2014 glänzt Luxemburg bei vielen Fragen mit: keine Angaben. Nicht einmal nach Rechtsgebieten wusste das Ministerium die Ausgaben für die Prozesskostenhilfe aufzuschlüsseln. Die Rechtsanwaltskammer liefert ein paar Zahlen: Die meisten der zwischen 2012 und 2014 bewilligten rund 9 000 Prozesskostenhilfeersuche betreffen Rechtsstreitereien vor dem Verwaltungsgericht (2 179 Fälle, darunetr viele Asylverfahren), Strafsachen, Scheidungen und Mietrechtsstreitigkeiten. Dass die Prozesskostenhilfe missbraucht werden kann, räumen Anwälte ein: Wenn Kollegen versuchen, möglichst viele Rechtsmittel einzulegen, obwohl ihr Erfolg aussichtslos ist, und diese dem Staat in Rechnung stellen. 2012, als Vertreter der Anwaltskammer mit Minister Biltgen zusammentrafen, um über die Kostenexplosion zu beraten, habe dieserZahlen vorgelegt, die zeigten, dass einige Anwälte besonders hohe Posten über die Prozesskostenhilfe abrechneten. „Da entfielen rund 1,2 Millionen Euro vom Gesamtetat auf eine Handvoll Anwälte“, bestätigt Rosario Grasso. Hohe Abrechnungen bedeuten aber nicht automatisch Missbrauch: Zu jener Zeit, so ein Insider, sei eine neue Regelung in Kraft getreten, wonach Abrechnungen nach fünf Jahren verjährten. Die hohen Kosten könnten sich so erklären, dass „viele Anwälte ihren Schreibtisch geräumt haben“. Auch Grasso ist vorsichtig mit Schuldzuweisungen: „Sicher lässt sich Missbrauch nie ganz ausschließen. Aber er ist die Ausnahme.“ Anwälte, die wegen Fehlverhaltens auffallen, würden intern abgemahnt. Schärfere Kontrollen trügen dazu bei, dass „die meisten damit nicht durchkommen“, ist sich Grasso sicher.

Für die Betroffenen hat diese neue Gründlichkeit der Prüfer gravierende Folgen: Wurde früher bei der Bedürftigkeitsprüfung mal eine Auge zugedrückt, wenn die Bemessungsgrenze um zwei oder auch 20 Euro überschritten wurde, wird sich nun eisern an die Vorgaben gehalten. Mit der Konsequenz, dass ein RMG-Empfänger seinen Anwalt vom Staat bezahlt bekommt, jemand, der den Mindestlohn verdient, aber leer ausgeht, obwohl er vielleicht zusätzlich Miete zahlen muss. „Das ist ungerecht und führt zu unnötigen Härten“, so eine Anwältin, die vor kurzem einen solchen Mandanten vor sich hatte. „Dem Armen hätte man fast raten müssen, sich kurzfristig arbeitslos zu melden“, ärgert sie sich über das „unflexible System“. Rosario Grasso sieht ebenfalls eine Gerechtigkeitslücke, hält aber an der strengen Auslegung fest: „So können wir zeigen, dass diese Regelung lückenhaft ist.“ Seit einigen Monaten kommt der Kammerpräsident, früher selbst Mitglied im Gremium, das die Prozesskostenhilfe prüfte, mit dem Justizminister zusammen, um über Änderungen zu diskutieren: „Wir haben Fälle zusammengestellt, die zeigen, was schief läuft“, sagt er und nennt als Beispiel eine Frau, die nach einem Scheidungsverfahren Vermögen im Wert von 400 000 Euro zugesprochen bekommt. Weil sie selbst nur ein bescheidenes Einkommen hat, übernimmt der Staat ihre Gerichtskosten. „Das ist schwer zu vermitteln“, sagt Grasso, der kommende Woche erneut ein Treffen im Ministerium hat. Hier könnte „eine Härtefallregelung“ helfen, so Grasso.

Beim Treffen nächste Woche sollen überdies Vorschläge für ein Bezahlsystem nach Fallpauschalen analysiert werden, mit dem das Ministerium hofft, die Kosten bremsen zu können. „Fallpauschalen machen in den meisten Strafrechtsverfahren keinen Sinn, weil sich schlecht abschätzen lässt, wie viele Zeugen für ein Prozess gehört werden müssen, welche Rechtsmittel in Frage kommen“, kommentiert eine Strafverteidigerin solche Pläne skeptisch. Grasso teilt die Bedenken, will sich einer Debatte dennoch nicht verschließen: „Bei einigen Rechtsakten könnten Fallpauschalen funktionieren“, gibt er zu bedenken. Als Beispiel nennt der Kammerpräsident Verfahren zur vorübergehenden Freilassung aus der Untersuchungshaft. Diese seien überschaubar und gewissermaßen standardisierbar: Der Richter prüft auf Antrag, ob eine Flucht- oder Verdunklungsgefahr besteht oder ob weitere Straftaten von der betreffenden Person zu erwarten sind. Ist dies nicht der Fall, kann der U-Häftling gegen Auflagen (Kaution) auf freien Fuß gesetzt werden. „Für erfahrene gute Anwälte ist die Vorbereitung eines solchen Verfahrens Routine“, ist Grasso überzeugt.

Doch eben diese Profis könnten dem System der Prozesskostenhilfe bald verloren gehen, warnen Kritiker, dabei arbeiteten sie oft am effizientesten. Die 87 Euro Stundenlohn, die ein Anwalt für einen Prozesskostenhilfe-Fall erhält, wurde seit 2009 nicht mehr an den Index angepasst. „Das Leben, Mieten und Löhne für Mitarbeiter werden auch für uns Anwälte nicht billiger“, klagt ein Betroffener. Viele Kollegen überlegten sich inzwischen gut, ob sie einen Mandanten annehmen, der Prozesskostenhilfe braucht. Andere haben die Wahl gar nicht: Wer sich auf Asylrecht spezialisiert hat und Flüchtlinge berät beispielsweise, wird kaum ohne Prozesskostenhilfe arbeiten können. Weil auch da sich die Ablehnungen häuften, sind viele Anwälte verunsichert, manch einer bangt gar um seine Existenz: „Die unter uns, die diese Fälle übernehmen, zahlen drauf“, so ein Anwalt verbittert. Asylverfahren sind teuer und oft langwierig, weil Anwälte im Interesse ihres Mandanten versuchen, alle Rechtsmittel auszuschöpfen. Dort zu sparen, ist jedoch doppelt heikel: Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht, und es ist derselbe Staat, der die Rechtsberatung bezahlt und die Kosten nun kleinhalten will, der auch die Abschiebungen durchführt.

Doch Überlegungen, dass eine Flüchtlingswelle, komplizierte Prozeduren, mehr Bevölkerungswachstum eine Rolle bei der Prozesskostenhilfe spielen, gerade so wie die anhaltende Wohnungsnot und die Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut in Zeiten einer Wirtschaftsflaute, oder beispielsweise auch die hohe Zahl zugelassener Anwälte, wird gar nicht thematisiert, obwohl man sich das von einer blau-rot-grünen Koalition hätte erwarten können. Aber das ist von Anfang an der Schwachpunkt an der Sparpolitik dieser und auch voriger Regierungen gewesen: Die Hintergründe für ungewollte Kostenentwicklungen werden kaum näher untersucht, ebenso wenig die sozialen Effekte von Sparmaßnahmen. Der Anteil der Prozesskostenhilfe im Gesamtetat des Justizministeriums von 136 Millionen Euro ist bescheiden. Der Zugang zur Justiz für alle aber ist ein Grundrecht, das sollten die Abgeordneten, die über den Haushalt abstimmen werden, wissen. Bei einer erfolgreichen Rechtsberatung spielt die Qualität eine entscheidende Rolle. Oder wie ein britischer Anwalt auf einer Konferenz über den Zugang zur Justiz in Krisenzeiten 2011 in Warschau warnte: „If you pay peanuts, you get monkeys.“

Ines Kurschat
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