Lockdown

Allein, sozial, politisch, verträumt

d'Lëtzebuerger Land vom 12.06.2020

Sie klebten draußen an Sonnentagen im März und April: An Flussufern, öffentlichen Plätzen, in Parkanlagen – und joggten durch die Gassen. Vor allem aber gingen die Gelockdownten spazieren. Sie versuchten ihren vier Wänden zu entkommen, indem sie an der frischen Luft umherliefen.

Als die Regierung Mitte März das ganze Land unter das Motto #bleiftdoheem verbannte, war zeitweilig eine der wenigen noch erlaubten Aktivitäten das Spazierengehen. Allerdings nicht ohne Weiteres, denn der Premier erklärte, man solle „nicht zu dritt, viert oder fünft spazieren gehen“, eben nur allein oder mit Personen, die im gleichen Haushalt leben. Ein paar Wochen war es den Einwohnern zudem nicht mehr möglich, mit dem Auto zu einem der 201 beschilderten Rundwanderwege zu fahren. Dabei verweist der Name „Autopédestre“ darauf, sich mit dem Auto zum Startpunkt des Rundwegs zu begeben, wie von offizieller Seite erläutert wurde. Luxemburg erfand in den 1960-er Jahren Spaziergänge, die mit dem Auto beginnen und enden; diese Tradition hatte das Coronavirus vorübergehend ausgehebelt.

In den Nachbarländern hingegen warben die Starärzte fürs Grüne: „Aus der Epidemiologie gibt es dafür, dass man nicht mehr an die frische Luft darf, kein Argument“, sagte der Virologe Alexander Kekulé. „Wenn wir Menschen dauerhaft zuhause in der Bude einsperren, ist es wahnsinnig schwierig, das psychologisch auszuhalten“, warnte er. Und Christian Drosten beschwichtigte: Es sei nicht so, dass man sofort infiziert werde, wenn man den Nachbarn beim Spazierengehen begegne.

Daniel Koch vom Schweizer Bundesamt für Gesundheit meinte seinerseits Mitte März, wenn er Menschen mit dem Rollator an der Sonne spazieren sehe, finde er das in Ordnung. Sehe er jedoch die gleichen Leute im Einkaufszentrum rumspazieren, müsse er sich Fragen über die mangelnde Solidarität innerhalb der Gesellschaft stellen.

Während die Älteren mit ihrem Rollator draußen herumliefen, entdeckten die jüngeren Generationen „das Promenieren mit Promille“. Stefan Gubser berichtete im SRF, wie er im Lockdown „das Trinken ohne Tresen“ praktizierte; die Beiz und die Bar habe er nicht vermisst, dafür am Stadtrand sein Bier aus dem Pappbecher genossen sowie die „Poesie der Peripherie“. Der Publizist Nils Markwardt schrieb auf Twitter: „Auch so ‘ne Folge von Corona: Ich geh freiwillig und unironisch spazieren“.

Die Sache mit dem Spazierengehen lief aber dann doch noch aus dem Ruder. Ein paar Wochen später formierte sich im Nachbarland Deutschland um diese harmlose Beschäftigung ein politisches Statement. Rechts- und linksextreme Gruppierungen, Verschwörungsmythologen und Bürger aus der Mitte riefen an Samstagnachmittagen zu „Hygiene-Spaziergängen“ auf. Die Protestwanderung begehrte dabei unter anderem auch gegen Impfzwang und den Verrat an Grundrechten auf (vgl. Theobald, d’Land, 15.5.2020).

In Luxemburg fordert man derweil mehr Platz für Fußgänger und Fahrräder, Kneipen und Restaurants; in Zeiten von Corona-Abstandsregeln solle die Politik bestimmte Straßen sperren. Bisher aber zögert die hauptstädtische DP-CSV-Spitze, Autos die sui generis Vorfahrt im Stadtbild zu nehmen. In Italien hat die Stadteroberung durch vor allem Abendspaziergänger schon länger Tradition und es zu einem eigenen Begriff gebracht: der passeggiata; das gesellige Rumspazieren, bei dem man mit Freunden und Nachbarn plauscht und sich bei Gelegenheit ein Gelato oder eine Arancini an einer Theke kauft. Würde ein solcher kultureller Import in Zeiten limitierter Kulturevents nicht gelegen kommen? Zugegeben, den luxemburgischen Städten fehlt leider die charmante Kulisse verwinkelter Gassen, wie in Italien üblich.

Wer das Buch Das Glück des Gehens (2020) von Shane O’Mara, Professor für experimentelle Neurowissenschaften, liest, wird über die vielen positiven Eigenschaften des Spazierengehens unterrichtet. Gerade in Zeiten des chronischen Sozialminus berge das Gehen Chancen: Denn zwischen Gehen, verbesserter Kreativität, einer Stimmungsaufhellung und einer allgemeinen Steigerung der Denkleistung bestehe ein Zusammenhang.

Das Spazierengehen ist Träumen bei Wachbewusstsein: Gedanken werden wiedergekäut, auseinandergerollt und verdaut. Nicht nur die Beine wandern, sondern auch die Gedanken, und das – so belegen es zahlreiche Studien – führt zu Problemlösungen. Und je schneller man gehe, desto zusammenhangloser denke man. Ist das schlecht? Nein, Autoren und Künstlern kommt es gelegen: So ploppen Metaphern und Bilder assoziativ aus den Synapsen. Wissenschaftlicher bietet das Geh-Zeitfenster die Möglichkeit, Ideen nochmals kreuz und quer zu verbinden. Und andere Problemknoten des Alltags, ob emotionaler oder pragmatischer Natur, könnten sich ebenfalls entwirren – und sei es nur, weil man ihnen sozusagen die Dramatik abläuft und entspannter wird. Gerade der einsame Spaziergang jedenfalls ermögliche es, in Dialog mit sich selbst zu treten.

Aber der Fußgänger im Solitärmodus kann auch sehr sozial sein. Dieser „aktive Müßiggang“ trainiert laut O’Mara unsere „soziale Kognition“, weil das Gehen das Denken an Mitmenschen fördern kann. In Zeiten von Social Distancing bleibt der Spaziergang also doch eine ideale Freizeitaktivität. Wird unsere Hauthülle dabei von ein paar Sonnenstrahlen getroffen, wird obendrein das Immunsystem gestärkt.

Allerdings sind die Gesundheitsvorzüge nicht ganz umsonst zu haben: So richtig entfalten sie sich erst, wenn der Fußgänger nicht langsamer als fünf Kilometer pro Stunde geht und dieses Tempo an mindestens vier Tagen pro Woche 30 Minuten lang beibehält.

Stéphanie Majerus
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