Fernsehserien

Vom Wandern und der Lust

d'Lëtzebuerger Land vom 23.11.2018

Der Begriff der Wanderlust – nicht nur die des Müllers – wurde zwar von deutschen Romantikern wie Joseph von Eichendorff oder den oben zitierten Wilhelm Müller (1821) geprägt, verließ jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts den deutschen Sprachgebrauch und wurde ins Englische übernommen. Die Wanderlust – fester Bestandteil des Bildungromans, heute Coming-of-age-Geschichte – steht nun titelgebend für einen BBC/Netflix-Sechsteiler. Nur steht in von Nick Payne geschriebener Serie kein verpickelter, Hornbrille tragender Junge im Mittelpunkt, der sich die Welt plötzlich mit Nouvelle Vague-Kino, Velvet Underground und dem einen Mädchen erschließt, sondern eine fast 50-jährige Frau.

Joy, Therapeutin und Mutter von drei mehr oder weniger erwachsenen Kindern, ist eigentlich glücklich mit Alan verheiratet. Eigentlich. Die Behauptung, das Sexleben des langjährigen Paares wäre von Routine zerfressen, ist eine Untertreibung. Ihm, dem geordneten Lehrer, genügt zwar die Monotonie des Alltags, so ist er frustriert von der latenten sexuellen Ablehnung ihrerseits. Diese Ablehnung jedoch wird gefüttert von Alans Hang zur Wiederholung. Zu alledem erholt sich Joy von einem schweren Fahrradunfall. Ein Fahrradunfall, der nicht nur die Serie eröffnet und dessen Folgen die inneren Motivationen der Figuren in Fahrt bringen, der aber vor allem im letzten Akt – wenn man bei einer Serie überhaupt von einem klassischen letzten Akt reden kann – seinen eigentlichen dramaturgischen Anspruch entfaltet. Dank diesem narrativen Kunstgriff findet die Serie Wanderlust eine ungeahnte Tiefe, die man ihr anfangs nicht zugetraut hätte.

Wie es so oft in Beziehungsgeschichten oder Dramen passiert, so geht auch hier ein Mensch dem anderen fremd. Nick Payne, der englische Theaterautor hinter dieser Serie – seinen Bühnenhit Constellations konnte man in einer faden St. Pauli Theater Inszenierung 2016 im Grand Théâtre sehen – bedient sich eines eigentlich manieristischen Dramaturgiefehlers: Er lässt Mann und Frau am gleichen Tag (!) fremdgehen. Er fängt ein Techtelmechtel mit einer jüngeren Kollegin an, sie nimmt einen fremden Mann aus dem Schwimmbad mit in ihr Konsultationszimmer. Beide Partner haben nichts zu verstecken und bringen beide Vorfälle zur Sprache. Nach längerem Gespräch steht eine waghalsige Lösung, die von ihr, der Frau, als erstes formuliert wurde: Wir lieben uns, haben aber auch Bock auf andere Menschen. Wieso also nicht? Das Paar öffnet, ohne auch nur einmal die Polygamie beim Namen zu nennen, die Beziehung. Einvernehmliches Fremdgehen als letzte Etappe, um eine Ehe zu retten. Die Nummer(n) rollt und bringt unerwartet auch frischen Wind in die Beziehung der beiden. Bis es dann irgendwann trotzdem nicht mehr funktioniert und die Ehe schlagartig vor dem Kollaps steht.

Es verwundert kaum, dass sich hinter diesem Vorhaben tiefe Sehnsüchte und noch viel tiefere Verletzungen verstecken. All das wollen die zwei Figuren, vor allem aber sie, Joy, nicht wahrhaben. Die Therapeutin, die in ihrer Praxis auch Paare behandelt, bekommt den Blick nur nicht auf sich gerichtet und besucht selbst eine Therapeutin. Hier ist die Entscheidung, die Hauptfigur als Therapeutin auftreten zu lassen, ebenfalls einer eigentlichen dramaturgischen Notlösung gleichzustellen. Nick Payne schlittert in seinem Schreiben – fürs Theater wie für den kleinen Bildschirm – immer wieder mal an einem trivialen Abgrund entlang, in den man sehr tief fallen kann. Wie bei Constellations, so ist auch die Prämisse in Wanderlust bei aller Form anfangs sehr einfach. Und je nach Umsetzung wird aus einfach entweder banal oder universell.

Ein Glück also, dass mit einem kompetenten Regieteam aus Luca Tcherniak und Luke Snellin und vor allem aber mit Toni Collette in der Hauptrolle die Serie in den richtigen Händen liegt. Die Australierin weiß ihre Figur aus aufgeräumter Therapeutin und von Ängsten geplagten Frau mit (zum Teil autodestruktiven) Impulsreaktionen nachvollziehbar zu porträtieren. Glänzte sie dieses Jahr schon im psychologischen Horrorthriller Hereditary, so hat sie nun bei Wanderlust das locker Dreifache an Zeit, um ihrer Figur die Tiefe zu verleihen, die sie schlussendlich hat. Denn wenn ein künstlerisches Team hinter einem Nick Payne-Projekt das anfänglich unsichere Gerüst festigen kann, so sind die emotionalen Wege von Paynschen Figuren doch vielschichtig und komplex. Die leichte Feder hinter den Figuren wird umso beeindruckender und die Begleitung des Zuschauers fruchtbringend und ungemütlich zugleich. Spätestens in der beeindruckenden vorletzten Folge dürfte die Identifikation perfekt sein, wenn bei Collettes Figur alle inneren Stricke reißen.

Wanderlust ist mit, vor allem aber dank Toni Collette ein herbstliches Serienkleinod, das zu keinem Moment zu einem first-world-problems-Manifest wird, sondern das mit seinem humanistischen Reflex und verletzten Figuren punkten kann. Das Wandern ist des Menschen Lust!

Tom Dockal
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