Die Schweizer Stimmbürger haben ein klares Zeichen gegen eine weitere Liberalisierung ihres Fiskalrechts gesetzt

Helvetische Überraschungen

d'Lëtzebuerger Land vom 17.02.2017

Am vergangenen Sonntag ist es in der Schweiz zu einer grossen politischen Überraschung gekommen. Die Stimmbürger haben in einem Referendum für die erleichterte Einbürgerung von Ausländern in der dritten Generation gestimmt und gleichzeitig die wirtschaftsliberale Unternehmenssteuerreform III (USR III) abgelehnt. Es handelt sich um zwei Resultate, die in ihrer Deutlichkeit im Vorfeld nicht erwartet wurden: 60,4 Prozent der Wähler haben die Einbürgerungs-Vorlage angenommen, 59,1 Prozent die Steuerreform abgelehnt. Insbesondere die Ablehnung der USR III ist umso überraschender, da die Schweiz eine internationale Vorbildfunktion bei der Liberalisierung der Wirtschaft einnimmt. Die Unternehmenssteuern in der Zentralschweiz liegen gemäss dem Forschungsinstitut BAK Basel bei 11 Prozent und zählen nach Hong Kong zu den tiefsten weltweit. Gemeinsam mit der liberalen FDP und der konservativen CVP bildet die rechte Schweizerische Volkspartei SVP den Kern der sogenannten Bürgerlichen, die die wirtschaftsliberale Mehrheit im Parlament stellen. Die USR III, gemäss der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) „wahrscheinlich die komplizierteste und am stärksten verästelte Gesetzgebung, die je in der Schweiz zur Abstimmung gelangte“, wurde inhaltlich stark von den bürgerlichen Parteien im Parlament geprägt. Der linke Block um die zweitstärkste Partei der Schweiz, die Sozialdemokratische Partei (SP), und die Grüne Partei Schweiz (GPS) hat mit Unterstützung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) und des Arbeitnehmerverbands Travail Suisse das Referendum gegen das Gesetz ergriffen.

Vordergründig geht es beim USR III um die Anpassung des Schweizer Steuermodells an internationale Standards. Die Schweiz ist aufgrund dieses Modells wiederholt von der OECD kritisiert und unter Druck gesetzt worden. In erster Linie geht es um die aktuell bestehende ermässigte Besteuerung von Statusgesellschaften. Diese können im Ausland generierte Gewinne in die Schweiz transferieren, wo sie von einem privilegierten Steuersatz profitieren. 2014 bereitete der Bundesrat, die Schweizer Regierung, den Gesetzesvorschlag USR III vor, den das Parlament im Sommer 2016 verabschiedet hat. Mit dem neuen Gesetz sollen Steuervergünstigungen auf ausländisches Kapital aufgehoben werden. Um die Attraktivität des Standorts Schweiz für internationale Unternehmen zu erhalten, werden die alten Privilegien allerdings durch neue ersetzt, die mit internationalen Standards in Einklang stehen. Zu diesen steuerpolitischen Kompensationsmassnahmen gehören beispielsweise die sogenannte Patentbox, erhöhte Abzüge für Forschung und Entwicklung sowie die zinsbereinigte Gewinnsteuer auf überdurchschnittlich hohem Eigenkapital. Während das Reformgesetz eigentlich die privilegierte Besteuerung ausländischen Kapitals aufheben soll, hat es letztendlich eine grundsätzliche Steuerbegünstigung von allen Unternehmen in der Schweiz zur Folge. So profitieren beispielsweise die Basler Pharma-Konzerne Novartis und Roche in hohem Masse von der Patentbox und den Abzügen für Forschung und Innovation.

Befürworter der USR III argumentieren, dass die Kompensierung der aufgehobenen Steuerprivilegien durch neue, Konzerne davon abhalten wird, in andere Länder wie Grossbritannien, die Niederlande oder Luxemburg abzuwandern. Das von den bürgerlichen Parteien dominierte Parlament hat die Aufhebung früherer Vergünstigungen allerdings nicht nur kompensiert, sondern durch die USR III auch zusätzliche eingebaut. So unterstreicht die wirtschaftsliberale NZZ, dass die Umsetzung der Gesetzesvorlage durch den Nationalrat, die grosse Kammer des Parlaments, ein „Maximalprogramm“ darstellt. Die linke Wochenzeitung WOZ schreibt ihrerseits von einer „Abkehr vom bisherigen Minimalkompromiss“ in der Schweizer Fiskalpolitik. Die gesamten finanziellen Auswirkungen der Reform sind unvorhersehbar, da sie von vielen Faktoren abhängen. Zusätzlich unterliegt die Umsetzung verschiedener Massnahmen wie zum Beispiel der Abzüge für Forschung und Entwicklung den kantonalen Behörden, die im föderalen System der Schweiz grundsätzlich eine grosse Autonomie in der Steuerpolitik geniessen. Befürworter und Kritiker des Gesetzes sind sich jedoch einig, dass die Reform zumindest kurzfristig Mindereinnahmen von bis zu drei Milliarden Schweizer Franken auf nationaler, kantonaler und Gemeindeebene bewirkt.

Die zu erwartenden Einbussen an Steuergeldern werden Sparprogramme nach sich ziehen. Den Kritikern dient der Kanton Luzern hierfür als Anschauungsbeispiel. Der Kanton Luzern hat die Unternehmenssteuern in den letzten Jahren bedeutend gesenkt, ohne die Mindereinnahmen durch den Zuzug neuer Firmen kompensieren zu können. In der Folge verordnete der Kantonsrat aufgrund von Sparmassnahmen eine Woche zusätzliche „Zwangsferien“ an den Mittelschulen. Die SP warnt zudem vor der Abwälzung der Steuerausfälle auf die Mittelschicht.

Die Sozialdemokraten, die gemeinsam mit der CVP, der FDP und der SVP die Regierung bilden, hatten als einzige Regierungspartei im Parlament Widerstand gegen die Umsetzung der USR III geleistet. Um zu verhindern, dass sie bei ihrer Wählerschaft als treibende Kraft hinter dem Gesetzesvorschlag angesehen wird, musste sie das Referendum ergreifen. Gleichzeitig dient das Referendum durch die regelmässige Mobilisierung der eigenen Wähler und die Themenbesetzung in der Öffentlichkeit auch der politischen Auseinandersetzung zwischen den Parteien. Das ist eine Strategie die gerade von der SP und der SVP genutzt wird und zu einer zunehmenden Polarisierung der politischen Landschaft in der Schweiz geführt hat. Seit den letzten nationalen Wahlen 2015 stellen die wirtschaftsliberalen Parteien FDP und SVP die absolute Mehrheit im Nationalrat. Dieses Übergewicht nutzen sie, um ein wirtschaftsfreundliches Programm ohne Rücksicht auf die Einwände der restlichen Parteien durchzusetzen. Für die SP war das Referendum gegen die USR III eine ideale Gelegenheit, die Konfrontation vom Parlament hinaus auf die Strasse zu tragen.

Zwar stimmt eine Mehrheit der Schweizer Bürger in der Regel zugunsten der Interessen von Wirtschaftsverbänden und gegen jene der Gewerkschaften – beispielsweise bei der Initiative für einen gesetzlichen Mindestlohn 2014 und der Initiative für eine Stärkung der Alters- und Hinterlassenenversicherung 2016. Allerdings konnten sich die Gegner der USR III die negative öffentliche Beurteilung des vorhergehenden Gesetzesvorschlags zu Nutze machen. Die USR II wurde im Februar 2008 unter der Federführung des damaligen FDP-Finanzministers Hans-Rudolf Merz den Stimmberechtigten zur Abstimmung vorgelegt. Gemäss dem Tagesanzeiger ging der Bundesrat in seiner Abstimmungsempfehlung von rund 80 Millionen Franken Steuerausfällen aus. Tatsächlich kam es jedoch zu Ausfällen in Milliardenhöhe. Diesbezüglich sprach das Bundesgericht von einer „krassen Verletzung der Abstimmungsfreiheit“ und von „Fehlinformation durch Unterdrückung“. In der Bevölkerung ist diese Affäre besser unter dem Begriff „Unternehmenssteuerbschiss“ bekannt. Mit dem Verweis auf die Geschichte der USR II ist es den Gegnern der USR III gelungen, die Stimmung in der Schweiz zu ihren Gunsten zu politisieren. Zudem ging es gemäss dem Politologen Thomas Milic um die Frage: „Welchen Nutzen hat der Durchschnittsbürger von der Vorlage?“ Den Befürwortern des Gesetzes, insbesondere der SVP, ist es nicht gelungen, ihre Wähler von der Reform zu überzeugen. Im Gegenteil: gerade in den ländlichen Regionen der Deutschschweiz, wo die Partei vor allem wegen ihrer restriktiven Migrationspolitik traditionell die meisten Stimmen holt, wurde die Reform deutlich abgelehnt. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass es sich hierbei um ein Votum gegen die Wirtschaftselite und die Globalisierung durch den Durchschnittsbürger handelt. Gerade die SVP politisiert mit einem anti-elitären Diskurs – meint dabei aber vor allem die „classe politique“ in der Hauptstadt Bern und nicht die Wirtschaftselite in ihren eigenen Reihen. Dieser Diskurs könnte dem wirtschaftsliberalen Flügel der SVP um Christoph Blocher und seine Tochter Magdalena Martullo-Blocher bei der Abstimmung zur USR III nun geschadet haben. Weiter schmerzen dürfte die rechte Partei, dass sie gleichzeitig eine Abstimmung über die erleichterte Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation deutlich verloren hat.

Die Abstimmungen vom 12. Februar 2017 könnten einen historischen Moment in der Schweizer Politik darstellen. Vor allem mit diesen deutlichen Resultaten ist die Ablehnung eines liberalen Wirtschaftsmodells bei gleichzeitiger Zustimmung für ein offeneres Einbürgerungsmodell ein Novum im Schweizer System. Die Auswirkungen der Abstimmungsresultate auf das Schweizer Modell dürfen jedoch nicht überschätzt werden. Die USR III geht zurück an den Absender und wird voraussichtlich vom Parlament entschärft werden. Zudem ändert die erleichterte Einbürgerung für Ausländer der dritten Generation wenig daran, dass die Schweiz eine grundsätzlich restriktive Immigrations- und Einbürgerungspolitik betreibt. Die Resultate des Abstimmungssonntags zeigen aber auch, dass die direkte Demokratie entgegen den Hoffnungen der europäischen Rechtspopulisten ein Hindernis für radikale politische Projekte darstellen kann.

Charles Wey
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