Die sogenannte positive Erziehung polarisiert in Frankreich. Hierzulande gibt es einen breiteren Konsens

Spiegelneuronen, Time-Outs und Frustrationstoleranz

Time-Out oder Time-In?
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 20.10.2023

Kindererziehung hat sich massiv gewandelt. Mit dem Glaubenssatz eines John Mirk, englischer Priester aus dem 15. Jahrhundert, dass Kinder gesehen aber nicht gehört werden sollen, geht heute kaum noch jemand hausieren; das Gleiche gilt für physische Bestrafung. Kinder und ihre Bedürfnisse werden tatsächlich vermehrt gehört: Es gibt Kinder- und Jugendparlamente, die sich ausschließlich mit den Belangen der jüngsten Gesellschaftsmitgliedern auseinandersetzen. Doch über die vermeintlich richtige Art, Kinder zu erziehen, wird immer noch gestritten. Allerdings auf andere Weise.

In Frankreich hat die Psychoanalytikerin und Kinderpsychiaterin Catherine Goldman dieses Jahr eine breite mediale Debatte angefeuert, ihr Artikel im Le Monde war der meistgelesene bisher. Sie hält die sogenannte „éducation positive“ oder „bienveillante“, wie sie die Kinderärztin Catherine Gueguen und Psychotherapeutin Isabelle Filliozat dort verteidigen, für gefährlich. Letztere befürworten zurecht eine Erziehung, in der Wertschätzung, Liebe und eine sichere Bindung die Hauptrolle spielen. Eine positive Erziehung, wie sie auch der Europarat oder die Unicef unterstützen. Catherine Goldman befürwortet sie ebenfalls. Allerdings sieht sie das Problem in einer „exklusiv“ positiven Erziehung und dem damit einhergehenden Mangel an Grenzsetzung, wenn das Kind „unerwünschtes“ Verhalten zeigt. Das Resultat dieser Art von Umgang seien zutiefst unglückliche Kinder, die auf Goldmans Couch landen, deren Eltern jedoch sehr gute Absichten hatten. Catherine Goldman befürwortet in Fällen, wo Situationen ausarten und das Kind bereits verwarnt wurde, gewaltfreie, kurze Auszeiten, die sogenannten Time-Outs, File dans ta chambre also, Titel ihres 2020 erschienenen Buches. Das Kind bliebe dann ein paar Minuten in seinem Zimmer, bis Ruhe eingekehrt ist – und das ab einem Alter von einem Jahr. Diese (bei Weitem nicht neue) Idee sorgte für einen Eklat: Mehr als 280 Kinderärzte, Psychologinnen und Erziehungspersonal unterschrieben einen offenen Brief im Le Monde, der diese Art von repressiver Erziehungspraxis anprangert, da sie Stress auslöse und der gesunden Kindesentwicklung im Weg stehe.

Catherine Goldman schreibt in ihrem Buch, das Kind würde dieses Time-Out als Frustration, jedoch nicht als Trauma auffassen: „Être exclu n’est pas identifié par l’enfant comme violent. (...) Il a parfaitement conscience de la cohésion entre ses systèmes et de la bienveillance de celui qui l’aide à grandir.“ Ist das als gezielte Provokation zu verstehen, in einer Gesellschaft, die beginnt, ihre Kinder – aus welchen Gründen auch immer – möglicherweise zu sehr zu vergöttern und es verpasst, auch ihre Frustrationstoleranz aufzubauen? Jedenfalls stehen sich zwei fundamental unterschiedliche Sichtweisen auf das Kind gegenüber. Spricht Goldman von einem Teil im Kind, den es zu „zähmen“ gilt, beharren Gueguen und Filliozat darauf, dass Verhalten wie etwa Wutkrisen entwicklungspsychologisch völlig normal seien, Kinder unter sechs Jahren sich noch nicht regulieren könnten und man ihnen stets mit liebevoller Empathie begegnen sollte. Positive Erziehung habe nichts mit Laxismus gemein, entgegnen sie. Erwachsene seien sowieso in einer Machtposition den Kindern gegenüber und missbrauchten diese allzu oft.

In Luxemburg fehlt es an kritischer Masse, um solche gesellschaftsrelevanten Erziehungsfragen breit aufgestellt und mit theoretischem Überbau in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Oft geht es um die Praxis, etwa berechtigterweise um die Zeit, die Kinder in Betreuungstrukturen verbringen und wie die Betreuung qualitativ verbessert werden kann. Dabei gebe es hier sehr viel zu besprechen und zu diskutieren: In einem dermaßen interkulturellen Land existieren unterschiedliche kulturelle Erwartungshaltungen an die Kindererziehung, auch innerhalb der Familien. Jacqueline Di Ronco ist Diplompsychologin und Mitbegründerin der Mamerhaff asbl., wo Familien seit 2017 Beratungs- und Freizeitangebote wahrnehmen können, „im Prinzip der Gleichwürdigkeit“ und mit Fokus auf das „zwischenmenschliche Miteinander“. Goldmans Time-Outs lehnt sie prinzipiell ab, da es für Kinder sehr schwer sei, von ihrer Herde entfernt zu werden. Sogenannte Time-Ins seien eine gute Alternative, eine Pause, bei der man jedoch im gleichen Raum bleibt und die Beruhigung des Kindes begleitet. Für sie entstehen Verhaltensprobleme dann, wenn ein Kind zu sehr von dem bekommt, was es will, und nicht genug von dem, was es wirklich braucht. „Wenn ein Kind stabil aufwächst und es ihm nicht an Fundamentalem fehlt, kommt es auch als junger Erwachsener damit klar, dass 50 andere mit ihm für den Arbeitsplatz konkurrieren. Diese Situationen muss man nicht bereits zuhause durchspielen“, findet sie. Es könnten auch mal die Eltern sein, die ein Time-Out bräuchten – spricht ihnen jedoch empathisch zu, dass es in dieser etwas kranken Welt nicht einfach sei, „den Norden zu behalten“.

Jemand, der ebenfalls viel von Eltern und ihren Sorgen mitbekommt, ist Jeannine Schumann, Mitbegründerin und Direktorin der Eltereschoul. Sie beobachtet, dass in den letzten 20 Jahren ein Fundament für eine andere Art von Kindererziehung gelegt worden ist. Was sich vor allem verändert habe, sei die Komplexität der Gesellschaft und die Situation der Eltern, die „enorm unter Druck“ stehen. „Sie sollen perfekte Eltern, perfekte Partner, perfekte Freunde und Arbeitnehmer sein.“ Das führt zu einem Gefühl der konstanten Überforderung. Jeannine Schumann begrüßt das Revival der Bindung, die für sie das A und O ist. Eine sichere Bindung legt ihrer Meinung nach das Fundament, um Frustrationen und schwierige Situationen gut zusammen meistern zu können. Was den Eltern zunehmend fehle, seien Alternativen. Sie fühlen Hilflosigkeit, wie sie schwierige Situationen angehen und lösen können: „Wenn wir nicht mehr brüllen und bestrafen sollen, was machen wir dann?“ In Workshops und Ateliers arbeitet die Eltereschoul gemeinsam mit den Eltern an Alternativen, inbsesondere präventiv. Wenn die Vierjährige schon drei Mal einen Anfall hatte, weil sie den Schokoriegel im Supermarkt nicht bekam, wie lässt sich das im Vorfeld vorbereiten, wie im Notfall entschärfen? Die Eltereschoul arbeitet mit dem australischen Triple-P-Programm, das ursprünglich aus der Sonderpädagogik stammt. In diesem Programm gibt es Time-Outs, allerdings erläutert Jeannine Schumann, dass dieses „Tool“ den Eltern bestmöglich erklärt und mit Nuancen gehandhabt wird – und grundsätzlich nur angewandt werden soll, wenn es für die Familien irgendwie passt.

Gilbert Pregno, Familientherapeut und Präsident der Menschrechtskommission, findet Grenzen setzen fundamental für die Erziehung. Kinder mögen Grenzen, meint er. Wichtig sei, wie man sie setzt. „Sie wegzulassen, schafft ein übergroßes Ego, das keinen Bezug mehr zur Realität hat und demnach nicht in der Welt klarkommt.“

Obwohl es nicht in der Natur der Sache liegt, existieren viele Familien heutzutage in einem Vakuum, und verfügen nicht über das Netzwerk, das sie brauchen. Das abgenutzte Sprichwort, dass es ein Dorf braucht für die Kindererziehung, gilt aber immer noch. „Die Unterstützung, die es an anderen Orten auf der Welt noch natürlich gibt, gibt es so für einen Großteil hier nicht mehr. Auch deshalb ist qualitative Kinderbetreuung so wichtig – die Familien sind darauf angewiesen“, sagt Jeannine Schumann. Die alleinerziehende Mutter, die abends erschöpft ins Bett fällt, aber nicht schlafen kann, weil sie finanziell nicht zurecht kommt, befasst sich wahrscheinlich weniger mit positive parenting und ist stattdessen froh, irgendwie durch die Tage zu kommen. Und auch Familien mit zwei Elternteilen sind oftmals zu müde, die selber entworfenen Regeln jeden Tag mit einer großen Portion Lebenslust und Empathie durchzuziehen und Frustrationstoleranz zu trainieren.

Eine abgehobene Diskussion ist es trotzdem nicht. Denn die Gelassenheit, was Erziehung angeht, scheint wie weggeblasen. Vermehrt wird über das Phänomen sogenannter „intensiver“ oder „Hyper“-Elternschaft berichtet, es reiht sich in die Spezies der Helikopter-, Drohnen- und Rasenmähereltern ein (letztere mähen jedes Problem, das ihren Kindern im Weg stehen könnte, im Vorfeld schon mal weg). Ökonomen wie Matthias Doepke und Fabrizio Zilibotti schätzen, dass diese Art der überengagierten Erziehung in liberalen Gesellschaften zunimmt, und stellen einen Zusammenhang mit wachsender sozialer Ungleichheit fest – das Kind als Kapital, in das man investiert, wenn man die Möglichkeit dazu hat. Die Zeit, die gehetzte Eltern mit ihren Kindern haben, sollen sie optimal nutzen, stets empathisch und zugewandt sein, die „quality time“ maximieren. Dazu wissen bildungsnahe Familien heutzutage im Vergleich zu den Generationen vor ihnen besser Bescheid über Kindesentwicklung, mögliche Traumata oder ähnliches und wollen ja nichts falschmachen. Stolpern sie in die Falle der „intensiven“ Elternschaft, fühlen sie sich eventuell noch dazu verleitet, den Terminkalender ihrer Kinder mit Aktivitäten vollzustopfen, um ihre spätere Entwicklung zu „optimieren“. Frei nach dem Motto: Mein Kleinkind kann schon fließend Mandarin, und deins? Die Soziologin Eva Illouz beschreibt die Art und Weise, wie der Kapitalismus unsere Emotionen vermarktet, sie zu Waren umfunktioniert. Und was könnte emotionaler sein, als das eigene Kind, sein Gedeihen oder sein Scheitern, das einigen Beobachtern nach ausschließlich auf dem Mist der Eltern gewachsen ist? Kein Wunder, dass der Markt für Elterncoaches und Ratgeber explodiert ist.

Jennifer van Vaerenberg ist diplomierte Soziologin und Mutter von zwei Kindern. Nach einer Karriere im luxemburgischen Gesundheitswesen hat sie sich kürzlich zum Coach (ein nicht geschützter Begriff) ausbilden lassen, sich selbstständig gemacht und ist Trainerin für „positive Disziplin“ geworden. „Somum“ heißt ihre Firma, ein Wortspiel mit dem Begriff Summum. Sie bietet insbesondere Müttern an, sich innerhalb von drei Monaten zu verwandeln: Nämlich von einer Mutter, die stets erschöpft ist, zu einer „mère calme, sereine et bien organisée, tout en appréciant les petits moments de bonheur quotidiens avec sa famille, sans subir d‘épuisement physique ou mental“, wie es auf ihrer Homepage heißt. Zwölf Sitzungen à 75 Minuten beinhaltet ihr Paket, monatlicher Kostenpunkt 250 Euro. Das Gleichgewicht zwischen Rahmensetzung und Seinlassen sei nicht immer einfach zu finden, erklärt Jennifer van Vaerenberg im Gespräch mit dem Land, auch, weil alle Kinder unterschiedlich seien. Von der Wirksamkeit der positiven Disziplin, die statt auf Bestrafen auf die Entwicklung von Auto-Disziplin setzt, ist sie überzeugt.

Wo situieren sich die Luxemburger, die stets zwischen frankophonen und deutschen Tendenzen hin- und hergerissen sind, was die Erziehung angeht? Es sei ambivalent, sagt Jacqueline Di Ronco. Der Einfluss der französischen Schule, die immer schon viel Wert auf frühestmögliche Autonomieentwicklung gelegt habe, nehme in Luxemburg ab, auch wenn das Personal in den Strukturen vorrangig frankophon sei. Der Fokus auf die Bindung, den man mittlerweile hier in den Rahmenplan für die Allerkleinsten eingebaut hat, ist hingegen in Deutschland schon länger der modus operandi.

Sarah Pepin
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