Über die Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaften in der Luxemburger Gesellschaft

Soll‘s auch noch politisch werden?

d'Lëtzebuerger Land du 11.11.2011

Mitte vergangenen Jahres besuchte ein internationales Gutachterteam das Centre d’études de populations, de pauvreté et de politiques socio-économiques (Ceps). Im Auftrag des Forschungsministers bewertete es die größte Abteilung des Ceps, Population [&] emploi, die nach ihrer Selbstbeschreibung vor allem die Lebensbedingungen und Lebensweisen der Luxemburger Gesellschaft untersucht, den Beschäftigungsmarkt und die Sozialpolitiken analysiert.

Die drei Gutachter, Sozialwissenschaftler aus Brüssel, Dublin und Wien, hielten in ihrem Abschlussbericht allerdings nicht nur fest, inwiefern die Publikationen der 30 Forscher der Abteilung internationalen Benchmarks nach dem berühmten Impact factor gerecht würden. Bemerkenswerterweise notierten sie auch, dass Population [&] Emploi unter seinen Möglichkeiten bleibe, „to identify or foresee the major social issues for Luxembourg and to anticipate and draw attention to emerging social problems in the national debate“. Die Experten hatten „the impression that the involvement of P[&]E in the national debate is rather passive“, und sie würde „not actively shape these debates“.

Aber: Soll es tatsächlich zu den Aufgaben der Sozialwissenschaften und vielleicht sämtlicher Humanwissenschaften gehören, sich an nationalen Debatten nicht nur zu beteiligen, sondern sie sogar zu prägen und große Themen vorweg zu nehmen?

Das ist nicht allein auf das Ceps bezogen eine interessante Frage. Dieses Forschungszentrum hat ein Problem: Sozialforschung betreibt es seit seiner Gründung durch den Psychologen Gaston Schaber 1982 beinah ausschließlich für Ministerien und Verwaltungen. Daneben führt es Umfragen für das Statistikamt Statec durch. Erst nach der Jahrtausendwende, als im Zuge der Lissabon-Agenda Luxemburg wie die anderen EU-Staaten viel mehr Geld in seine öffentliche Forschung steckte, begann das Ceps mehr und mehr, auch größere Zusammenhänge zu untersuchen.

Bis heute aber hat es keine regelrechte Forschungsstrategie. Dass der wissenschaftliche Ruf seiner relativ neuen Abteilung für Geografie und Landesplanung besser ist als der der Sozialforschung, ist ein Ausdruck davon. Der Forschungsminister will die Strategiebildung am Ceps nun beschleunigen: Das Spezialgesetz von 1989, das dem Ceps dank Schabers guter Kontakte zur Politik zu einem Sonderstatut beim Staatsministerium verhalf, soll abgeschafft und das Ceps den anderen drei Centres de recherche publics gleichgestellt werden.

Angesichts dieser Umstände wäre es derzeit wahrscheinlich vom Ceps zu viel verlangt, gesellschaftliche Debatten zu prägen. Die Frage, ob die Humanwissenschaften das tun sollten und es womöglich bereits tun, könnte sich eher mit der Universität beantworten lassen.

Und bei uni.lu, wo die Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur, Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungswissenschaften auf dem Campus in Walferdingen von der Zahl der Studenten und der Zahl der Studiengänge – vor allem im Master-Bereich – her die größte der drei Fakultäten darstellt, wird die Rolle der Humanwissenschaften durchaus so gesehen. Man spricht dort gern von „Humanwissenschaften“ als Oberbegriff für sämtliche Geistes und Sozialwissenschaften: Die Themen, mit denen diese sich befassen, kämen allesamt aus der Gesellschaft und hätten mit menschlichem Handeln zu tun.

Doch das Debatten-prägen-Wollen hat mehrere Aspekte und stößt auf ein paar Schwierigkeiten. Dass die auch mit Politik zu tun haben, liegt in der Natur der Sache, wenn es um gesellschaftliche Debatten geht.

Nichts mit Politik zu tun hat, dass die Uni noch immer jung ist und unter den neu eingestellten wissenschaftlichen Mitarbeitern und Professoren viele Ausländer sind, für die der Forschungsgegenstand Luxemburg erst einmal neu ist. Ebenfalls nichts mit Politik zu tun hat, dass einige Extra-Kreativität schon beim Aufstellen von Forschungsprojekten erforderlich sein kann, wenn daraus eine international beachtete Publikation werden soll, die von Luxemburg erzählt: Ein Mittelalterforscher zum Beispiel, der über eine so bekannte Figur wie Jang de Blannen veröffentlichen will, kann von mehr internationalem Interesse dafür ausgehen als ein Geograf, der die Herausbildung der grenzüberschreitenden Metropolenregion um Luxemburg-Stadt beschreibt: in dem Fall kann es nötig sein, die eigene Arbeit komparativ mit einem im Ausland ähnlich gelagerten Fall zu verknüpfen.

Wenn das Forschungen über Lu-xemburg nicht verhindert, werden solche Forschungen andererseits nicht erleichtert durch die Struktur der Luxembourg Studies an der Walferdinger Fakultät. Dabei geschieht in dem von dem Historiker Michel Pauly koordinierten Verbund aus Geschichte, Politikwissenschaften, Soziologie, deutscher, französischer und luxemburgischer Sprach- und Literaturwissenschaft, Geografie und Raumplanung, Kunst, Philosophie und Gender Studies gar nicht wenig. Zur Rentrée académique vor ein paar Wochen wurden neun Doktorarbeiten aus dem Verbund vorgestellt, eine Publikationsreihe bei Peter Lang, einem Schweizer Wissenschaftsverlag, ist in Vorbereitung, und dem Projekt Ident über die Konstruktion von Identitäten im multikulturellen Boomstaat Luxemburg soll eine Fortsetzung Ident 2 folgen.

Doch ein Forschungsprogramm Luxembourg Studies ist etwas anderes als jene Forschungspriorität, die die Beschäftigung mit Luxemburg für die Uni in deren erstem Vierjahresplan von 2006 bis 2009 noch darstellte. Nach der Rückstufung im zweiten Vierjahresplan 2010 bis 2013 gibt es für die Luxembourg Studies nicht zuletzt weniger Mittel.

Die genauen Ursachen für die Rückstufung sind nicht ohne weiteres zu ermitteln; weil sie den Standort der Universität selbst betrifft, ist diese Frage heikel. Die Lesart des Forschungsministers lautet, die Fakultät habe es nicht vermocht, ein „föderierendes Thema“ für die Luxembourg Studies zu definieren. Deshalb sei dem Conseil de gouvernance der Uni empfohlen worden, sie als Priorität zu streichen.

Dass dabei Politik eine Rolle ge-spielt haben könnte, ist nicht auszuschließen. Denn die 2004 gebildete Regierung, in deren Amtszeit der erste Vierjahresplan der Uni fiel, hatte sogar in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten, als eine „grand axe“ an der Universität die Forschung über „l’identité du pays, sur la société lu-xembourgeoise, les flux migratoires, l’intégration ainsi que sur la langue et le système de langues pratiqué au Luxembourg, ceci pour disposer d’instruments permettant de promouvoir la cohésion sociale“ zu verankern. Von einem „föderierenden Thema“ war noch keine Rede.

Vielleicht gab einen Ausschlag, dass die Humanwissenschaften europaweit unter steigendem Druck stehen, ihre „Nützlichkeit“ nachzuweisen. Wie weit er geht, zeigt, dass derzeit Humanwissenschaftler aus der ganzen EU in einer Petition an die EU-Kommission dagegen protestieren, dass im nächsten, dem achten EU-Forschungsrahmenprogramm ihre Disziplinen nicht mehr vorkommen sollen.

In Luxemburg allerdings ist die Frage, ob und wie Humanwissenschaftler die gesellschaftliche Debatte prägen sollten, nicht zuletzt mit ein paar besonders „politikrelevanten“ Disziplinen verknüpft; etwa der Soziologie, der Ökonomie oder der Politologie. Immerhin: Ein Forschungsvorhaben über Identitätskonstruktionen, das davon ausgeht, dass alle Untersuchten gleich seien, ist sicher leichter anzubringen als eines über Ungleichheiten und gesellschaftlichen Ausschluss.

Da ist es ganz bermekenswert, dass an der Fakultät in Walferdingen derzeit daran gearbeitet wird, für den nächsten Vierjahresplan den „sozialen Wandel“ zu einer Forschungspriorität für die Universität machen zu lassen: In der Schnittmenge aus Wirtschaft, Sozialem und auch Ökologie soll die „Gerechtigkeitsfrage“ gestellt werden – nach Einkommens-, Ressourcen- und Bildungsgerechtigkeit, aber auch, wie gerecht verteilt die Möglichkeiten zur politischen Partizipation sind.

Was daraus wird, dürfte die Frage mitbeantworten, ob die Humanwissenschaften die gesellschaftliche Debatte prägen. Einmal, weil sich daran auch ganz prinzipiell entscheiden kann, ob in der Luxemburger Gesellschaft eine Universität als eine weitere Stimme neben den gewohnten von Regierung, Gewerkschaften, Patronat, Parteien, der katholischen Kirche und ein paar starken Vereinigungen überhaupt erwünscht ist. Um so mehr, als diese neue Stimme von sich in Anspruch nehmen könnte, über unabhängiges Expertenwissen zu verfügen, was sie für die anderen Akteure in der Debatte zur latenten Bedrohung macht.

Darüberhinaus aber sind Themen wie sozialer Wandel und Gerechtigkeit gut geeignet, den akademischen Raum hinter sich zu lassen: Wissenschaftler könnten mit der Öffentlichkeit besprechen, was Belange der Öffentlichkeit sind. So viel Publikmachung ist auch deshalb nicht unwichtig, weil sich dieses Jahr eine Entwicklung vollzogen hat, die bedeutsam sein könnte für die humanwissenschaftliche Forschung und die Debatte darüber: Das neue Statec-Gesetz erteilt dem Statis-tikamt der Regierung eine offizielle Forschungsmission. Der Statec, der schon immer die von ihm erhobenen Daten interpretierte, wird damit zu einer Einrichtung ähnlich dem Insee in Frankreich, das nicht nur Daten erhebt, sondern auch die Realität dahinter diskutiert.

Das ist potenziell weitreichend.Denn was der Statec mit der neuen Mission an Themen verbindet, ist mit „Nachhaltiger Entwicklung“, dem „Wohlergehen der Gesellschaft“ und dem langfristigen Zusammenhang von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum auf öffentliche Budgets, Ressourcen und Landverbrauch ziemlich deckungsgleich mit den Ideen an der Uni. Und mit dem Arbeitsfeld des Ceps ebenfalls. Die Besonderheit des Statec besteht freilich darin, dass er weitaus mehr als Uni und Ceps gewohnt ist, mit den Medien zu kommunizieren, und schon jetzt eine starke Stimme bei der Verbreitung von Wissen über die Gesellschaft dar-stellt. Ganz abgesehen davon, dass ihm eine Charta für wissenschaftliche Unabhängigkeit mit auf den Weg gegeben wurde: Eine Staatsverwaltung ist er geblieben, und es sähe besser aus, wenn der Haupt-Deuter des Wohins der Gesellschaft nicht beim Staat angesiedelt wäre.

Peter Feist
© 2023 d’Lëtzebuerger Land