Die Vereinigten Staaten von Europa

Dieses Ding der Unmöglichkeit

d'Lëtzebuerger Land vom 21.12.2012

Alle wollen Europa retten, aber keiner will es haben. Auf diese paradoxe Kurzformel kann man die nun schon jahrelangen Bemühungen eindampfen, die die Folge der griechischen Staatspleite sind. Selbst die Engländer, Europaskeptiker par excellence, wollen zwar nicht dazu gehören und keinen Penny für die Rettung des Euro spenden, aber noch weniger wünschen sie ein Ende der gemeinsamen Währung oder gar der EU herbei. Wenn sie die Europäische Union auch nicht lieben, so lieben sie doch ihren Binnenmarkt und mögen ihn, zum eigenen Heil, nicht missen.

EU-Kommissarin Viviane Reding hat sich kürzlich aus der Deckung gewagt. Man kann nicht gerade behaupten, dass sie in der Vergangenheit als die Sybille von Luxemburg bekannt geworden wäre, aber vor dem letzten EU-Gipfel hat sie in einem Interview mit der Rheinischen Post aus Düsseldorf vorhergesagt, dass die Vereinigten Staaten von Europa im Jahr 2020 Wirklichkeit sein werden. Sie weiß auch, dass die baltischen Länder und Polen dazu gehören werden. Bis dahin soll die EU einen eigenen Sitz im UN-Sicherheitsrat haben und Europa im Internationalen Währungsfonds vertreten sowie eine echte europäische Regierung sein. Viviane Reding ist sich so sicher, weil nicht sein darf, was nicht sein kann. Es kann keine einheitliche Währung ohne einen dahinterstehenden Staat geben. Wie so vieles in Europa verdanken wir auch diese Erkenntnis den Griechen.

Europa wurde, um es mit einem Ausdruck des 19. Jahrhunderts zu sagen, recht eigentlich im Krieg der alten Griechen gegen die Perser geboren. In der Schlacht bei den Thermophylen und der Seeschlacht bei Salamis haben sich die Griechen gegen die Perser behaupten können. Das gemeinsame Erlebnis dieser Selbstbehauptung war eine entscheidende Grundlage für die Entstehung Europas. Ohne ein solches gemeinsames Erlebnis bilden sich keine Kulturräume und schon gar keine Nationen. Die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa wäre aber nicht nur die rational notwendige Folge zur Rettung einer Gemeinschaftswährung, sondern auch die Geburtsstunde einer neuen Nation. Es darf und es muss bezweifelt werden, dass der Bail-Out Griechenlands das dafür grundlegende Gemeinschaftserlebnis sein wird.

Die Europäische Union hat ihre Wurzeln in der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Diesen Gründungen liegt ein gemeinsames Erleben zugrunde, denn es haben sich in den 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts die sechs Staaten Europas zusammengeschlossen, die alle zu einem von Historikern so genannten Zusammenbruchsraum gezählt werden können. Es waren die sechs Länder Westeuropas, die im Zweiten Weltkrieg den größten Verheerungen ausgesetzt waren, die am Anfang der Integration standen. Hätte es den Eisernen Vorhang nicht gegeben, so hätten die am meisten zerstörten Länder Osteuropas mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern dieser Ur-Union gehört.

Niemand kann sich wünschen, dass die Vereinigten Staaten von Europa wie Deutschland 1870/71 oder die Vereinigten Staaten von Amerika ein Jahrhundert früher gegen einen äußeren Feind ihren Weg in die Welt finden. Angesicht historischer Erfahrungen ist es jedoch extrem unwahrscheinlich, dass es ohne Außendruck zu einer stärkeren inneren Verdichtung – und nicht anderes wären diese Vereinigten Staaten von Europa – kommen wird. Die Notwendigkeiten der Rettung des Euro dürfen nicht unterschätzt werden, sie werden in einem langsamen und langen Prozess ihre Wirkung entfalten. Auch wenn der Europäische Gipfel vergangene Woche den letzten Beschluss für den unumkehrbaren qualitativen Schritt hin zu einer echten europäischen Wirtschaftsregierung noch nicht gefasst hat, so hat er diesen doch nur verschoben, aber keineswegs zurückgewiesen. 2013 sieht man sich zum gleichen Thema wieder. Gerade das Beispiel der Wirtschafts- und Finanzkrise und die Pleite Griechenlands zeigen, dass sich die ökonomischen Gesetze nur kurzfristig aushebeln lassen, auf Dauer geht das nicht. Insofern ist der Optimismus von Viviane Reding grundsätzlich durchaus berechtigt.

Es ist von jeher ein Mangel der europäischen Integration gewesen, dass sie von oben gebaut wurde. Die Annäherung an eine echte europäische Wirtschaftsregierung folgt wieder diesem Muster. Das seit vielen Jahrzehnten beklagte europäische Demokratiedefizit wächst in der Krise weiter an, obwohl es spätestens seit den 90-er Jahren regelmäßig als Hauptursache einer wachsenden Europaskepsis ausgemacht wird. Die im nächsten Jahr anstehende Wahl zum deutschen Bundestag ist für die Bundeskanzlerin Merkel ein ausreichender Grund, jeden großen Wurf in der Europapolitik zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Die französische oder britische Politik folgt dem gleichen Muster, in den meisten Mitgliedstaaten sieht es nicht besser aus. Der Spagat zwischen dem, was politisch notwendig ist, und dem, was die führenden nationalen Politiker ihren Bürgern an Europapolitik glauben zumuten zu können, wird immer größer. Seit dem Scheitern der europäischen Verfassung haben die politischen Klassen Europas mehr denn je Angst vor ihrem Volk. Mit dieser Grundhaltung allerdings untergraben sie auf der einen Seite, was sie auf der anderen Seite aus dem Zwang, den Euro zu retten, aufbauen. Der Riss zwischen oben und unten wird so immer größer.

Es bleibt das Geheimnis der zeitgenössischen Politiker, wie sie eine tiefere Integration ohne eine echte Mitsprache der zu Integrierenden nachhaltig ins Werk setzen wollen. Auf der anderen Seite müssen sich aber auch die europäischen Bürgerinnen und Bürger fragen lassen, wie sie die selbstverständlich gewordenen Vorteile der EU behalten wollen, ohne sich für das gemeinsame Haus stärker zu engagieren. Niemand kann die Europäische Integration auf Dauer einfach nur konsumieren. Sie wird nur dann Bestand haben und sich weiterentwickeln, wenn die Europäer selbst bereit sind, aktiv und kämpferisch daran mitzuarbeiten. Am Anfang, da mag Jean Monnet Recht haben, sind es die Institutionen, auf lange Sicht aber sind es die Menschen, die die EU zusammenhalten und weiterentwickeln.

Christoph Nick
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