Kritische Reflexionen zur androzentrischen und eurozentrischen Geschichtsvermittlung

Ist das wirklich die ganze Geschichte?

d'Lëtzebuerger Land du 01.12.2023

„On ne naît pas femme: on le devient“ (Beauvoir, 1949, S. 15). Die viel beachtete Aussage der französischen Philosophin Simone de Beauvoir bringt es auf den Punkt: Geschlechterrollen und stereotype Verhaltensweisen sind nicht naturgegeben. Kinder werden aufgrund physischer Geschlechtsmerkmale zu Frauen oder Männern erzogen, indem ihnen von klein auf ein soziales Regelwerk mitgegeben wird, wie sie sich verhalten sollen. Kommen sie dieser Aufforderung nicht nach, riskieren sie für ihre Nicht-Normkonformität marginalisiert und diskriminiert zu werden.

Schulbücher spielen durch die Vermittlung von Werten und Normen eine wesentliche Rolle in der Sozialisierung von Kindern. Da Schulbücher nicht die Realität widerspiegeln, sondern eine Repräsentation jener Gesellschaft sind, die sie legitimieren (Brugeilles & Cromer, 2008), tragen sie dazu bei, geschlechtsspezifische Ungleichheiten zu reproduzieren und/oder zu festigen. Unser Forschungsprojekt (Kerger, Pianaro & Schadeck, 2023) konzentriert sich auf das verwendete Lehrmaterial in der Unterstufe des Sekundarunterrichts.

Vor diesem Hintergrund sind wir folgenden Fragen nachgegangen: Welche Rolle übernehmen Schulbücher bei der Vermittlung von Wissen, sozialen Kompetenzen und Werten? Mit welchem Blick wird die Aufarbeitung historischer Ereignisse erzählt? Und welche Geschichten und Persönlichkeiten gelten als erzählenswert?

Der Datenkorpus dieser Studie umfasst insgesamt 52 Schulbücher, die einer quantitativen und qualitativen Analyse unterzogen wurden. Neben einer Geschlechts- und Altersidentifizierung wurde auch die Repräsentation von nicht-weißen Personen und Menschen mit Behinderungen in Schulbüchern, sowie die Sexualität der Personen berücksichtigt. Des Weiteren wurde untersucht, in welchen häuslichen und beruflichen Aktivitäten Personen dargestellt werden, und die Repräsentation bekannter Persönlichkeiten wurde analysiert.

Für eine transparente und nachhaltige Vermittlung der Studienergebnisse wurden die globalen Resultate sowie ausgewählte Forschungsaspekte durch intensive Pressearbeit öffentlich mediatisiert. Eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2022) der öffentlichen Reaktionen auf die Forschungsresultate ergab, dass insbesondere die Resultate zum Fach Geschichte auf größeres Interesse stießen. Die Kommentare waren oft kritisch und richteten sich vorwiegend gegen die Empfehlung der Studie, die Schulbücher des Fachs Geschichte aus einer geschlechtersensiblen Perspektive anzupassen. Die hegemoniale Repräsentation männlicher Personen wird von den Kritiker/innen durch eine historisch bedingte Dominanz männlicher Persönlichkeiten legitimiert.

Ein Blick auf die Zahlen macht deutlich, wer von historischer Relevanz zu sein scheint: 11 114 (73,4 Prozent) männliche Persönlichkeiten stehen 1 847 (12,1 Prozent) weiblichen gegenüber. Die Geschichtsvermittlung in Luxemburger Geschichtsbüchern erfolgt demnach vorwiegend aus einer androzentrischen Perspektive. Der Androzentrismus definiert den Mann als Norm und zentralen Bezugspunkt. Nach dieser Auffassung wird Männlichkeit als neutral und objektiv richtig angesehen. Die Aufwertung von Männlichkeit und der daraus resultierenden Rollenvorstellungen legitimiert im gleichen Zug die Abwertung und den Ausschluss von (geschlechtsspezifischen) Abweichungen von dieser Norm. Eine androzentrische Perspektive klammert die Lebensrealitäten von Frauen und anderen Geschlechtsidentitäten aus.

Der inhaltliche Fokus der aktuellen Geschichtsvermittlung liegt deutlich auf der Militärgeschichte sowie auf politischen Transformationen einzelner Länder in bestimmten Epochen. Zu den primären Analysegegenständen zählen die Beschreibung involvierter Kriegsparteien und deren Vorsitzenden, der politischen Motive der Kriegsführung und der Aufstellung des Militärapparates. In diesem Zusammenhang kann auch von einer männlich dominierten Kriegsfront gesprochen werden. Dabei wird deutlich, dass die aktive Kriegsbeteiligung sowie die politische Handlungsmacht das Kernelement historischer Wissensvermittlung bilden. Dem gegenüber steht eine vorwiegend weibliche Heimatfront. Diese restriktive Perspektive blendet die Lebensrealitäten jener Menschen aus, denen die politische und/oder militärische Teilnahme verwehrt blieb. Vorwiegend handelt es sich um Frauen, Kinder, ältere Menschen, Homosexuelle und Menschen mit Behinderung. Eine Auseinandersetzung mit den Ursachen für diesen historischen Ausschluss bestimmter Personengruppen findet nur begrenzt statt.

Dieser exkludierenden Form der Wissensvermittlung stellt Lundt eine Untersuchung der „historisch[en] Realität geschlechtsspezifischer Existenzweisen (1991, S. 10)“ entgegen, die das Verhältnis und die Differenz zwischen den Geschlechtern im Rahmen einer historischen Analyse erläutert und demnach in die historische Aufarbeitung inkludiert. Die hier erläuterten Studienergebnisse bezeugen, dass die „Realität geschlechtsspezifischer Existenzweisen“ bis dato nicht der Geschichtsvermittlung im luxemburgischen Sekundarunterricht zu Grunde liegen.

Laut Détrez (2016) wird durch die mangelhafte Repräsentation von Frauen suggeriert, dass Frauen keine relevanten Positionen eingenommen hätten. Der gesellschaftspolitisch bedingte Ausschluss von Frauen aus politischen sowie militärischen Ämtern macht Frauen in der aktuellen historischen Wissensvermittlung demnach unsichtbar. In diesem Sinne wird sowohl die Rolle der weiblichen Resistenz im Kriegsgeschehen als auch die Notwendigkeit der geleisteten Lohn- und Pflegearbeit durch Frauen für die Bewahrung ökonomischer und sozialer Gesellschaftsstrukturen ignoriert. Die sogenannte weibliche Heimatfront im Ersten Weltkrieg, beschreibt den Einsatz von Frauen in Rüstungsfabriken, die militärische Handlungen in erster Linie überhaupt ermöglichte (Hagemann, 2002, S. 12). Die aufstrebende Kriegsindustrie verlangte nach Arbeitskräften, die vorwiegend weiblich besetzt waren, weil Männer im wehrpflichtigen Alter an der Kriegsfront stationiert waren. Die nationale wirtschaftliche Integrität, beziehungsweise internationale Konkurrenzfähigkeit konnte demnach allein durch die Professionalisierung von Frauen gewährleistet werden. Obwohl die weibliche Erwerbsarbeit, beziehungsweise die Lebensrealitäten von Frauen während des Ersten und Zweiten Weltkriegs mittlerweile vielfach erforscht wurden (Kundrus 1995, Rouette 1993, Hämmerle u.a., 2014), werden diese Erkenntnisse kaum in dem von uns ausgewählten Analysematerial reflektiert.

Neben einer sehr androzentrischen Geschichtsvermittlung stellen wir zudem eine eurozentrische Erzählung historischer Ereignisse fest. Eine eurozentrische Perspektive bezieht sich auf westliche gesellschaftliche Werte und Normen und bezeichnet die Bewertung von Kulturen nach den Maßstäben westlicher Vorstellungen. Eurozentrismus beschreibt somit keinen neutralen Vergleich zwischen verschiedenen Gesellschaftsordnungen, sondern wertet westliche Eigenschaften auf, indem abweichende Entwürfe abgewertet werden. Diese direkte Gegenüberstellung erzeugt eine Wertehierarchie und reproduziert länder- und kulturübergreifende Unterschiede. Das Ergebnis ist die Unterdrückung nicht-westlicher Realitäten (Melber, 1992).

Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen, dass nicht-weiße Menschen hauptsächlich durch einen eurozentrischen Blick wahrgenommen werden, das heißt aus einer Perspektive, die sie als die „Anderen“ identifiziert und aus den westlichen Gesellschaften ausschließt. Um einer stereotypen und stigmatisierenden Darstellung von rassisierten Menschen entgegenzuwirken, empfehlen wir, dass bei der Erstellung und Überarbeitung von Unterrichtsmaterialien die Kompetenzen von Expert/innen in Anspruch genommen werden. Im Sinne einer Dekonstruktion einer eurozentrischen Geschichtsvermittlung soll zudem die Kolonialisierung in den Unterrichtsmaterialien ausführlich und transversal thematisiert werden.

Wie bereits zu Beginn erläutert, beeinflusst ausgewähltes Bildungsmaterial durch die Vermittlung von Werten die Sozialisierung von Kindern und Jugendlichen (Brugeilles & Cromer, 2008). Hier stellt sich die Frage, welche Kompetenzen in jungen Jahren gefördert werden, um sich frei von Rollenerwartungen und Vorurteilen entwickeln zu können.

Die feministische Geschichtswissenschaft stellt eine traditionelle Geschichtsvermittlung, „in der Männer meinen, Subjekt zu sein und die Frauen als Objekte ihrer Geschichtsdeutung arrangieren zu können“, (Bußmann, 1991, S. 118) in Frage. Anlehnend an diese Kritik müsste die Diversifizierung der historischen Wissensvermittlung im luxemburgischen Sekundarunterricht von großer Relevanz sein. Entgegen aller Widerstände gegenüber geschlechtersensiblen Bildungsansätzen soll Normativitätskritik nicht als neue Normativität missverstanden werden, sondern „tatsächlich als Vervielfältigung von Möglichkeiten“ (Laumann & Debus, 2018, S. 287).

Das Wirken und Schaffen weißer männlicher Herrscher soll weder unsichtbar gemacht, noch aus der Geschichtsvermittlung entfernt werden. Es geht darum, die Wissens- und Geschichtsvermittlung um diverse Perspektiven zu erweitertn, um die Lebensrealitäten aller zu berücksichtigen und nach außen zu kommunizieren.

Sylvie Kerger ist Dozentin für pädagogische Psychologie an der Universität Luxemburg. In ihrer Forschungsarbeit beschäftigt sie sich mit Gender, Stereotypen und inklusiver Sprache. Claire Schadeck ist Politikbeauftragte am Cid-Fraen an Gender und Forscherin an der Uni Luxemburg.

Literaturverzeichnis

Beauvoir, S. (1949): Le Deuxième Sexe, Tome 2. Gallimard

Brugeilles, C., & Cromer, S. (2008): Comment promouvoir l’égalité entre les sexes par les manuels scolaires. Guide méthodologique à l’attention des acteurs et actrices de la chaîne du manuel scolaire. Unesco

Bußmann, M. (1991): „Die Frau – Gehilfin des Mannes oder eine Zufallserscheinung der Natur? Was die Theologen Augustinus und Thomas von Aquin über Frauen gedacht haben“. In: Lundt, B. (Hrsg.): Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. (S. 114-134). Wilhelm Fink Verlag

Détrez, C. (2016): Les femmes peuvent-elles être de Grands Hommes? Éditions Belin

Hagemann, K. (2002): „Heimat-Front. Militär, Gewalt und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege“. In: Hagemann, K. & Schüler-Springorum, S. (Hrsg.), Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege. (S. 12-52). Campus

Hämmerle, C., Überegger, O., & Bader-Zaar, B. (Hrsg. 2014): Gender and the First World War. Palgrave McMillan

Kerger, S., Pianaro, E., & Schadeck, C. (2023): Les représentations dans les manuels scolaires: Cycle inférieur de l’enseignement secondaire. Université du Luxembourg.

Kundrus, B. (1995): „Kriegerfrauen“. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Wallstein Verlag

Laumann, V., & Debus, K. (2018): „,Frühsexualisierung‘ und ‚Umerziehung‘? Pädagogisches Handeln in Zeiten antifeministischer Organisierungen und Stimmungsmache“. In: Lang, J. & Peters, U. (Hrsg.): Antifeminismus in Bewegung. Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Vielfalt. (S. 275-302). Marta Press

Lundt, B. (1991): Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Wilhelm Fink Verlag

Mayring, P. (2022): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Beltz

Melber, H. (1992): Der Weißheit letzter Schluß. Rassismus und kolonialer Blick. Brandes & Apsel

Rouette, S. (1993): Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg. Campus Verlag

Sylvie Kerger, Claire Schadeck
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