Voller Barmherzigkeit: Kurz vor Weihnachten setzt die christlich-sozial-liberale Regierung das Bettelverbot in der Hauptstadt um

„Dat kann an enger Stad net sinn“

Léon Gloden, damaliger Bürgermeister von Grevenmacher, am Buergermeeschterdag auf der Fouer
Photo: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land du 22.12.2023

„Villäicht soll ee guer net mei an d’Stad goen, oder just mat engem alen Trench“, war ein Leserbrief im Luxemburger Wort im April dieses Jahr überschrieben. Darin regte sich eine Frau auf: „D’Leit sollen entspaant duerch eis schéi Staat kënne goen, eis schéin an deier Geschäfter kucken. Räich Cliente sollen heihi kommen an all dëst soll eis e gudden Image bréngen. Et ka jo net sinn, dass eis d’Staat esou d’Bach ageet, an ëmmer nëmme gesot gëtt, mir hu keng Handhab. (...) Et ass net ze roden eng deier Posch aus der Philipsgaass an och kee Schal mat engem bekannte Logo ze droen, vun enger Ketten oder eng Auer aus onse schéine Bijouteriën jo guer net ze schwätzen.“

Léon Glodens (CSV) erste Amtshandlung als Innenminister wird gewesen sein, sicherzustellen, dass sich reiche Menschen die Armut anderer weniger zu Gemüte führen müssen. Kurz vor Weihnachten gab er grünes Licht für das allgemeine Bettelverbot in der Hauptstadt, das seine sozialistische Vorgängerin Taina Bofferding noch im Mai blockiert hatte. Bis zum 1. Januar gilt nun eine Übergangsfrist für die Bettler. Damit hat das Großherzogtum es am gestrigen Donnerstag sogar auf die Titelseite der Süddeutschen Zeitung geschafft.

Am Montagnachmittag klirrt es vor Kälte, die zahlreichen Weihnachtslichter der Hauptstadt funkeln im Nebel. Am Hamilius sitzen drei Obdachlose, alle haben einen Pappbecher hingestellt. Sie sitzen auf dreifach gefalteten Decken, um es auf dem Boden auszuhalten. Eine von ihnen, Sonia, ist seit fast zwei Monaten auf der Straße, sagt sie. Sie sei dieses Jahr mit ihrem Mann aus Portugal hergekommen, ein Job und eine Unterkunft seien ihr versprochen worden, doch nichts davon sei eingetreten. Ihre beiden Kinder, vier und fünf Jahre alt, seien zuhause bei ihrer Großmutter. Um Weihnachten werde es schwieriger als sonst, klarzukommen. Sonia hat von der neuen Regelung gehört, am Wochenende seien sogar Polizisten an ihr vorbei gelaufen, aber niemand habe sich an ihr gestört. Sie macht sich Sorgen, dass ihr die Passanten nun weniger Geld geben könnten. Ein weiterer Mann ohne Obdach kommt vorbei. Er sagt, er sei gerade in der Groussgaass weggeschickt worden. Tatsächlich ist die Geschäfts-Flaniermeile an diesem Nachmittag völlig frei von Bettlern, die sich stattdessen in andere Straßen verzogen haben.

Am Cercle Cité, gleich neben dem Weihnachtsmarkt, sitzt Max. Eine grüne Mütze hängt über seinen Augenbrauen, er stiert nach vorne. Der 23-jährige Luxemburger ist seit neun Tagen auf der Straße, abends hat er einen Platz in einem Nightshelter, sagt er. Wie trifft ihn das Verbot? „Es ist schade, dass nun alle bestraft werden, weil einige sich falsch verhalten.“ Er sehe die „Banden, die Mafia“, die den Menschen nachlaufen und sie nicht in Ruhe lassen, die „sogar achtjährige Kinder“ nach Geld fragen. „Ich hingegen sitze bloß hier.“ An einem sehr guten Tag gehe er mit 30 Euro nach Hause. Oft seien es allerdings nur fünf, über die er sich freut, denn das bedeute ein warmes Getränk und etwas zu essen. Wenn er nicht mehr betteln darf, wird er sich „etwas anderes suchen“, erklärt er.

Dem Strafgesetzbuch nach kann die sogenannte mendicité organisée, die vom Innenminister Léon Gloden und vom hauptstädtischen CSV-DP Schöffenrat als Grund für das jetzige Bettelverbot angeführt wird, seit der Reform des Gesetzes zum Menschenhandel 2014 verfolgt und mit Gefängnisstrafen von fünf bis zehn Jahren und Geldstrafen von 50 000 bis 100 000 Euro geahndet werden. Die mendicité organisée ist laut Artikel 41 der Polizeiregelung ebenfalls auf kommunaler Ebene in der Hauptstadt verboten. Laut dem neu hinzugefügten Artikel 42 dürfen nun „alle anderen Formen“ des Bettelns auch zwischen 7 und 22 Uhr in einer Reihe Straßen der Stadt verfolgt werden. (In Diekirch und Ettelbrück gibt es ein saisonales Bettelverbot von Mai bis Oktober.) Dem Strafgesetzbuch nach ist die mendicité simple jedoch seit 2008 nicht mehr verboten. Dass es keine weitere Einschränkung brauche, lässt der Law & Order Innen- und Polizeiminister Léon Gloden nicht durchgehen. Er beruft sich auf eine Jurisprudenz des Verwaltungsgerichts und auf ein Dekret aus dem Jahr 1789, das festlegt, dass der Bürgermeister für die öffentliche Hygiene und Ruhe seiner Stadt zuständig ist. Das Lacatus-Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, das 2021 fiel und festhielt, dass ein Bettelverbot und dahingehende strafrechtliche Belange eine Unverhältnismäßigkeit darstellen, interpretiert Léon Gloden anders.

Immer wieder wird das Argument wiederholt, dass es in der Hauptstadt nur um organisierte Banden gehe, bis sich diese Aussage ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Ein Vorwand, denn dann braucht man nicht zuzugeben, was der LSAP-Gemeinderat Tom Krieps bereits im März in einer hitzigen Sitzung mit dem hauptstädtischen Schöffenrat im Hinblick auf die Bettler allgemein und mit einem Verweis auf den Blinden von Jericho sarkastisch feststellte: „Können diese Menschen nicht in Ruhe leiden? Sie gehen uns auf die Nerven.“ An einem „gemeinsamen Strang“ würde er nun nicht mehr ziehen, wenn auch andere Formen des Bettelns in die Regelung kämen, erklärte Krieps.

Premierminister Luc Frieden (CSV) huldigte am Montagmorgen im Radio 100,7 den karitativen Institutionen. Er erklärte, das Bettelverbot sei keine Regierungsentscheidung, sondern eine Entscheidung von Léon Gloden, hinter der die Regierung jedoch stehe. Die Entscheidung der vorherigen Innenministerin sei „politisch“ gewesen, eine Aussage, die klingen soll, als sei Glodens Entscheidung politisch neutral. Personen, die aus dem Ausland regelmäßig nach Luxemburg kämen, würden sich hier „breet maachen“, was zu einem „gewëssenen Duercherneen“ führe. „Dat kann an enger Stad net sinn.“ Es sei unwürdig, wenn Menschen auf der Straße schlafen würden und ihnen müsse geholfen werden. Gebe es einen Subtext für diese vermeintlich christlich-sozial-liberale Entscheidung, würde er lauten: Wir wollen die Armut der anderen nicht sehen.

DP und CSV berufen sich öfter auf die zahlreichen sozialen Organisationen, die aktiv sind, um Bedürftigen in der Stadt zu helfen (Lydie Polfer zählt 16) oder auf das große Sozialbudget der Hauptstadt (67 Millionen für 2024). Im März hatte Lydie Polfer beteuert, dass der Schöffenrat der Stadt „seinen Mantel jeden Tag teile“ und „Sozialpolitik lebe“. Außer der Stëmm vun der Strooss haben sich bisher kaum soziale Institutionen zur Regelung geäußert. „Das Verbot ist eine Form von sozialer Bereinigung“, urteilt Frédéric Braun, Journalist bei der Zeitung der Stëmm im Gespräch mit dem Land. Es käme einer Zensur gleich, zu versuchen, die Realität einer Stadt auf diese Weise zu verfälschen – nämlich so zu tun, als gebe es die wachsenden Ungleichheiten nicht. Öl ins Feuer sei es auch für die ärmeren Menschen und Obdachlosen untereinander, weil es die Polarisierung unter ihnen befeuere. Die Luxemburger könnten sagen: Die Rumänen haben unsere Manche kaputtgemacht. In Großbritannien verkaufen obdachlose Menschen Straßenzeitungen. Wäre das eine Option für die Stëmm, wenn das Verbot juristisch durchkommt? „Das müsste intern geprüft werden. Eine Möglichkeit wäre es sicherlich, auch um die Personen zu vermenschlichen.“

Das Wort Roma und Sinti nehmen weder DP noch CSV in den Mund. Doch sie sind mitunter gemeint, wenn es um die organisierten Banden geht, die aus „deutschen Limousinen mit belgischen Nummernschildern am Boulevard Royal entladen werden“, wie es Léon Gloden im 100,7 ausdrückte. Die nationale Menschenrechtskommission (CCDH) sieht hingegen keine gesetzliche Basis für die Regelung und spricht von einem „gefährlichen Amalgam zwischen Bettelei und Menschenhandel“ sowie der Kriminalisierung als inadäquates Mittel zur Bekämpfung von Armut. Im Tageblatt wies der Menschenrechtsanwalt Frank Wies darauf hin, dass hier seines Erachtens eine liberté publique durch die kommunale Regelung eingeschränkt wird. Die Verhältnismäßigkeit dieser Einschränkung sei hier jedoch nicht gegeben, was die Regelung verfassungswidrig machen könnte.

Am Dienstagabend ging es in einer fast zweistündigen Sitzung im Parlament ums Thema. Die Opposition war bis auf die ADR mehr oder weniger auf einer Linie. Während die LSAP-Fraktionsvorsitzende Taina Bofferding bedauerte, dass kein juristisches Urteil des Verwaltungsgerichts abgewartet wurde, und der Regierung vorhielt, die Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Taktik funktioniere beim Betteln nicht, bemühte ihr Parteikollege Dan Biancalana den Schweizer Pädagogen Johann Pestalozzi: „Wer die Armut erniedrigt, der erhöht das Unrecht“. Weiter echauffierten sich die Abgeordneten Marc Baum (Linke), Marc Goergen (Piraten) und Meris Sehovic (Grüne) über das Verbot. Letzterer fragte: „Wie wollen Sie jemanden bestrafen, der nichts mehr hat? Wollen Sie ihm die letzten paar Euro aus seinem Pappbecher nehmen?“ Laurent Mosar (CSV) wies darauf hin, dass die Bettler immer noch woanders um Geld bitten könnten (etwa auf dem Kirchberg oder in Bonneweg) und dass die Bettelfreiheit nicht auf Kosten anderer gehen könne. Auf die Frage, wie jemand, der auf dem Boden sitzt, die Freiheit anderer einschränke, antworteten Léon Gloden – und Lydie Polfer – wiederholt, es ginge nicht um diese Bettler. Lydie Polfer gab an, der Polizei zu vertrauen – die Beamten könnten hier sicherlich den Unterschied zwischen den beiden Arten von Betteln (simple oder organisée) machen.

Ins Absurde driftete die Diskussion mehrmals ab, als im Kreis eben darüber debattiert wurde, wer mit dem Verbot visiert ist – und um das Verständnis des Satzes in Artikel 42: toute autre forme de mendicité. „Warum haben Sie nicht das hineingeschrieben, was Sie bekämpfen wollen?“, fragte Sam Tanson (Grüne). Seitdem nur die mendicité organisée visiert wurde, sei nichts passiert, die Situation habe sich eher verschlimmert, antwortete Lydie Polfer. Als Innenminister Léon Gloden letztlich vor die Kammer trat, erklärte er: „Hei steet net der Däiwel virun iech, och kee Mann ouni Häerz. Hei steet den Inneminister, den de contrôle de légalité vun de Gemengereglementer kuckt.“ Ein starker Rechtstaat und ein starker Sozialstaat würden einander nicht ausschließen. Dass Politiker für die Polizei verständliche Gesetze erlassen sollten, die sie nicht selber interpretieren muss, sprach er nicht an.

An der Avenue Monterey, es ist schon fast dunkel, sitzt Sven, ein Deutscher, mit seiner Hündin Luna. Er bezeichnet sich selbst als „Lebenskünstler“ und reist seit mehr als fünf Jahren durch Europa. Vor ihm liegt ein Buch mit Kunstwerken, die er verkaufen will. Er findet das Bettelverbot katastrophal, da es die „freie Markwirtschaft“ unterbinde und „die Leute noch mehr desozialisiert und ins Abseits schiebt“. Während des Gesprächs kommt ein Mann mit seinem circa 15-jährigen Sohn und drei vollgepackten Tüten aus dem Gucci-Laden. Sven ruft ihm zu: „Habt ihr noch etwas übrig?“ Der Mann antwortet lachend: „Kannst du einen Fuffi wechseln?“ Er kramt in seiner Tasche herum, kommt noch einmal zurück und bringt Sven einen Zehn-Euro-Schein. Zum Abschied wünschen sie sich frohe Feiertage.

Sarah Pepin
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