Theater

Das Missverständnis

d'Lëtzebuerger Land vom 20.12.2019

Vor wenigen Jahren hatte der Intendant des Grand Théâtre Tom Leick-Burns eine Idee. Er wollte eine alte Tradition wiederbeleben: volkstümliche Märchen aus dem 19. Jahrhundert an die gegenwärtige Zeit anpassen und in Luxemburger Sprache auf die große Bühne bringen. Ein Schauspiel, das alle anspricht inmitten der Gesellschaft – jenseits des selbstreferenziellen Theatermilieus, das sich regelmäßig de L‘art pour l‘art serviert. Die Idee von Leick-Burns war gewagt, aber er ging die Wette ein.

Und mit Rumpelstilzchen von Ian De Toffoli und Myriam Müller konnte er einen Teil der Wette einlösen: Die Produktion war zwar kostenintensiv, aber sie konnte den eigenen Ansprüchen gerecht werden und funktionierte als Theaterstück für die ganze Familie. Zwei Jahre später sollte die Neuinterpretation von Rapunzel an diesen Erfolg anknüpfen. Und damit sich das neue Grimmsche Märchen von Rumpelstilzchen auch abheben sollte, setzte Leick-Burns noch einen drauf und forderte ein Musical. Es sollte nur eines von vielen Missverständnissen in Rabonzel sein.

Das erste Missverständnis beginnt mit dem Autor. Jeff Schinker hat sich einen Ruf erarbeitet als wort- und sprachgewandter Denker, der sich an komplexen Stoffen abarbeitet. Komplexitätsreduzierung und Vereinfachung gehören nicht zu den Stärken von Jeff Schinker. Doch Märchen, die sich an ein jugendliches Publikum richten, erfordern gerade diese Stilmittel. Oder wie Regisseur Charles Muller im Programmheft sagt: „Es gibt kein unbestechlicheres, kein ehrlicheres Publikum als Kinder. Mit Intellekt kann man sie nicht blenden.“ Schinker tut sich jedoch schwer, eine stringente Handlung zu verfassen. Vieles wirkt allzu konstruiert geradezu an den Haaren herbeigezogen. So bleibt eigentlich unklar, warum Rabonzel (Sophie Mousel) zunächst in den Turm muss, um später wieder aus ihm verbannt zu werden. Genauso unklar bleibt, warum sich alle am Schluss in die Arme fallen – abgesehen davon, dass Märchen nun einmal so enden. Der Autor scheint mit der historischen Vorlage gefremdelt zu haben. Ein Satz wie „Elo geet et duer mat deene Märercher“ kann als Hauch von Distanzierung vom eigenen Werk gedeutet werden.

Ein weiteres Missverständnis besteht darin, talentierte Schauspieler zu casten, ohne sie jedoch nach ihrem musikalischen Talent zu befragen. Denn trotz aufwendiger Technik und viel Hall-Effekt trifft in Rabonzel mit Ausnahme von Fabienne Hollwege und Maximillien Jadin eigentlich niemand einen Ton. Da kann die arme Sophie Mousel noch so viele Rapunzel essen, um ihre Stimme zu ölen. Es bleibt unerklärlich, warum Regisseur und Dramaturg ihre Schauspieler derart vorführten. Es sei denn, sie wollten beim Publikum Mitleid erregen. Hinzu kommt, dass die Musik von Grammy-Produzent Gast Waltzing zwar nicht nach 19. Jahrhundert klingt – aber auch nicht nach 21. Jahrhundert. Breitbeiniger Gitarrensound (welcher Jugendlicher träumt heute noch von einem E-Gitarrensolo?) versetzen Rabonzel eher in die 1980-er-Jahre als in die Gegenwart. Immerhin: Kostüme und Bühnenbild sorgen für einen Aha-Moment im positiven Sinn und erinnern an die fabelhafte Welt einer Björk. Aber angesichts dieses Sammelsuriums an Missverständnissen wirkt das wenig tröstlich. Mit Rabonzel haben sich die Verantwortlichen des Grand Théâtre vertan.

Rabonzel von Jeff Schinker und Gebrüder Grimm. Regie: Charles Muller, Dramaturgie: Andreas Wagner, Musik: Gast Waltzing, Bühnenbild, Belichtung und Kostüme Dragoş Buhagiar, Regieassistenz Daliah Kentges, Maske: Joel Seiller. Mit Sophie Mousel, Maximillien Jadin, Timo Wagner u. a.

Pol Schock
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