Fußball-Weltmeisterschaft 2018

Migrationsgesellschaften am Ball

d'Lëtzebuerger Land vom 22.06.2018

Nachdem die Schweizer Nationalmannschaft ein Unentschieden gegen den Favoriten aus Brasilien erkämpfte, waren sich die Kommentatoren einig, bei welchem Spieler sich die Eidgenossen in erster Linie zu bedanken hatten. Der defensive Mittelfeldspieler Valon Behrami hatte den brasilianischen Starspieler Neymar 70 Minuten lang nahezu vollständig aus dem Spiel genommen. Der gebürtige Jugoslawe steht nicht nur wegen seiner robusten Spielweise exemplarisch für die Schweizer Mannschaft. Er gehört auch zu den vielen Spielern mit Migrationshintergrund im Kader der Helvetier.

Die Nationalelf der Schweiz repräsentiert ebenso wie die belgische, deutsche oder französische eine Einwanderungsgesellschaft. Interessant ist, wie sich die wirtschaftspolitische und koloniale Geschichte der jeweiligen Staaten auf die Zusammensetzung ihrer Nationalmannschaft auswirkt. Während für Belgien und Frankreich viele Spieler mit Vorfahren aus Afrika auflaufen, ist der Kader der Schweizer von balkanstämmigen Fußballern geprägt. Das deutsche Team hat mit Mesut Özil und Ilkay Gündogan zwei Spieler türkischer Herkunft.

Den vier Nationalmannschaften ist also gemeinsam, dass Spieler mit Migrationshintergrund eine tragende Rolle spielen und einen großen Anteil am Erfolg haben. Kaum verwunderlich, genießen junge Männer wie Vincent Kompany in Belgien, Jérôme Boateng in Deutschland, N’Golo Kanté in Frankreich und Valon Behrami in der Schweiz höchste Wertschätzung – nicht nur in der Welt des Sports, sondern in breiten Teilen der Gesellschaft. Die Fußballnationalmannschaft ist in diesen vier Ländern einer der wenigen Bereiche, in denen Menschen mit Migrationshintergrund nicht nur eine Möglichkeit geboten wird, die Gesellschaft, in der sie leben, auf globaler Bühne zu repräsentieren. Ihre Leistungen werden auch honoriert. Diese Anerkennung einer pluralistischen Gesellschaft lässt sich beispielhaft an großen Fußballturnieren beobachten. Nie zuvor wurde das multikulturelle soziale Gefüge in Frankreich derart hochgelobt wie nach dem Sieg der Équipe Tricolore bei der Heim-WM 1998.

Dabei stellen die Nationalmannschaften an sich einen Anachronismus im modernen Fußballgeschäft dar. Professionelle Spieler entscheiden sich für den meistbietenden Arbeitgeber und wechseln für mitunter horrende Summen die Vereine, sofern ihnen oder ihrem Umfeld ein Transfer opportun erscheint. In internationalen Topvereinen, wie Paris Saint-Germain, stehen Fußballer aus der ganzen Welt im Kader. Bei großen Turnieren wie der EM und der WM werden hingegen nationale Herkunft und Zugehörigkeit suggeriert und inszeniert, die im Alltag des modernen Profifußballs zunehmend an Bedeutung verlieren.

Nicht wenige Fußballer mit Migrationshintergrund, die über eine Doppel-Nationalität verfügen, entscheiden sich denn auch aus sportlichen Gründen für eine von zwei möglichen Nationalelfs. Während Mesut Özil ebenso für die Türkei spielen könnte, sich aber für die wesentlich besser aufgestellte deutsche Mannschaft entschieden hat, fiel die Wahl des gebürtigen Schweizers Ivan Rakitic aus sportlichen Gründen auf die kroatische Auswahl. Dem Weltklasse-Spieler Rakitic wurde seine Wahl in der Schweiz übel genommen – nicht nur im Fußballverband, sondern auch in den Milieus, denen jede Gelegenheit recht ist, Migration auf gesellschaftlicher Ebene zu problematisieren.

Es ist sicher kein Zufall, dass sich rechtspopulistische Parteien in den vier erwähnten Ländern zu wichtigen Akteuren im politischen System entwickelt haben. Bislang bekommen sie nur geringen Zuspruch, wenn sie die Zusammensetzung der jeweiligen Fußballnationalmannschaften öffentlich kritisieren. Jean-Marie Le Pens abschätzige Bemerkung über das französische Weltmeisterteam von 1998 oder Alexander Gaulands Aussage über den dunkelhäutigen Spieler Jérôme Boateng seien hier als Beispiele genannt.

Leistet sich ein Nationalspieler mit Migrationshintergrund aber (mutmaßlich) einen Fehltritt, kann seine Herkunft zum Thema öffentlicher Debatten werden, wie die medial hochgespielte Affäre um den Franzosen Karim Benzema zeigt. Dem Stürmer von Real Madrid wird vorgeworfen, in die Erpressung seines ehemaligen Teamkollegen Mathieu Valbuena verwickelt zu sein. Noch ehe ein Gerichtsurteil gesprochen wurde, verbannte der französische Verband auf politischen Druck hin den wohl erfolgreichsten aktiven Fußballer Frankreichs aus dem Kader der Bleus. Obschon Benzema als schwieriger Charakter gilt, scheint auf seinem Rücken eine gesellschaftliche Debatte ausgetragen zu werden, die Frankreich immer mehr entzweit: die um den Platz des Islam in Frankreich.

Am Beispiel der Fußballnationalmannschaften lässt sich zeigen, wie die koloniale Vergangenheit, die Weltwirtschaft und die Globalisierung auf das Konstrukt der Nation einwirken. Und man kann beobachten, wie Akteure des politischen und öffentlichen Lebens die Antwort auf die neuen Herausforderungen im Rückzug in die imaginierte Vergangenheit nationaler Realitäten suchen.

Charles Wey
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