Aggressionen und Gewalt zwischen Kindern in Krippe und Kindergarten sind ein Tabu. Aber sie kommen vor, öfter als man meint

Der Kleine tut doch nichts

d'Lëtzebuerger Land du 07.02.2020

Es waren Fotos, die schockieren: ein Kleinkind mit zerkratztem Gesicht und blutigem Schorf. Keine simple Hautabschürfung, sondern halbmondförmige Kratzer, augenscheinlich von Fingernägeln zugefügt. Die Bilder hatte ein Vater ins Forum der Expats in Luxembourg auf Facebook gestellt und sich hilfesuchend an die Gemeinschaft gewandt: Was tun? Er fügte zwei weitere Fotos hinzu: Laut ihm in derselben Luxemburger Kinderkrippe aufgenommen, zeigen sie ein Kind, diesmal mit blau unterlaufenen Bissmalen an den Beinen.

Es entzündete sich daraufhin eine Kontroverse: Auf der einen Seite jene, die die Verletzungen „normal“ fanden und dem Vater mehr oder weniger deutlich zu verstehen gaben, nicht viel Aufhebens darum zu machen. Auf der anderen diejenigen, die das ganz und gar nicht normal fanden und den Vater nahelegten, gegen den Betreiber vorzugehen. Inzwischen wurde der Beitrag komplett gelöscht, der Vater will sich nicht weiter äußern und behält auch den Namen der Einrichtung für sich.

Es ist nicht das erste Mal, dass Eltern versuchen, sich über Facebook Ratschläge in punkto Qualitätsstandards bei der Kinderbetreuung zu holen. Im Februar 2019 postete eine Mutter im selben Forum ein ähnliches Anliegen: Viermal sei ihre Tochter mit Kratzern und Bisswunden nach Hause gekommen; ob das noch normal sei? Die Reaktionen ähnlich divers: Von normal und typisch für die Entwicklung bis unnormal und Kind herausnehmen reichten die Einschätzungen. Niemand aber konnte der Mutter eine offizielle Stelle angeben, wohin sie sich mit ihrem Anliegen wenden könnte.

Die Regierung hat viel in die außerfamiliäre Kinderbetreuung investiert. Verglichen mit vor zehn Jahren hat sich das Angebot an Betreuungsplätzen mit fast 60 000 mehr als verdoppelt. Das Erziehungsministerium hat die Qualitätsentwicklung vorangetrieben, einen Rahmenplan für die non-formelle Bildung herausgebracht. Einen Leitfaden, was tun, wenn Unsicherheiten oder Verdachtsmomente für Unregelmäßigkeiten bei der Fremdbetreuung auftreten, sucht man allerdings vergebens.

D’Land hat den Test gemacht: Die Homepage www.enfancejeunesse.lu bietet Erklärungen und Broschüren zur staatlich subventionierten Kinderbetreuung, in denen der Betreuungssektor ausführlich beschrieben wird. Aber ein Großteil des Informationsmaterials ist auf Deutsch und viele Expats können nur Englisch oder Französisch. Der mit der Reform des Jugendgesetzes 2016 gesetzlich verankerten obligatorischen Qualitätssicherung ist gar eine eigene deutschsprachige Broschüre gewidmet. Aber eine Emailadresse oder eine Kontaktperson, wo sich melden bei Problemen, fehlen ebenso wie eine Erklärung, was eine Beschwerde konkret für Folgen hat.

Dabei sieht das Jugendgesetz neuerdings einen Beschwerdeweg (nicht nur für Eltern) vor; genau genommen sogar zwei: Regionalagenten kontrollieren zweimal jährlich routinemäßig alle Kindertagesstätten im Land. Die Beobachtungen ihres Rundgangs, positive wie negative, halten sie in einem Bericht fest. Es bestehen Pläne, künftig nur die beanstandeten Mängel aufzulisten, auch um das Personal zu entlasten. Das hat angesichts des Betreuungs-Booms alle Hände voll zu tun. Fallen den Agenten bei ihren Kontrollgängen wiederholte Verstöße gegen Auflagen auf, seien es Hygiene- oder Sicherheitsmängel, falsche Personalschlüssel, fragwürdige Praktiken wird dies notiert, die Einrichtung aufgefordert, nachzubessern, und der Fall dem Ministerium gemeldet. Das gilt erst recht bei schwerwiegenden Verstößen, oder Beschwerden von Eltern. „Die geben wir direkt dem Ministerium weiter“, sagt Georges Metz, Leiter des nationalen Jugenddiensts SNJ, dem die Regionalagenten unterstehen.

Die Zuständigkeit der Regionalagenten endet hier; alles, was grobe Verstöße betrifft, die Sanktionen nach sich ziehen könnten, ist den Prüfern des Ministeriums (drei Vollzeitstellen) vorbehalten. Sie dürfen unangemeldet nach dem Rechten sehen, „und das tun wir auch“, betont Fabienne Leukart, Vize-Leiterin der Abteilung Kinderbetreuung im Ministerium und zuständig für die Celulle plainte. 293 Beschwerden gingen die Prüfer 2019 nach, das sind 105 mehr als noch 2018. Die Maßnahmen der Behörden reichen vom administrativen Nachprüfen, über Ermahnungen bis zu Kontrollen vor Ort. „Jeder Fall ist anders“, betont Leukart. Sind die vorgefundenen Missstände so gravierend, dass das Wohl der betreuten Kinder gefährdet ist, kann die staatliche Finanzierung gestoppt werden; im schlimmsten Fall droht der Entzug der Betriebsgenehmigung. „Das geschieht aber selten“, sagt Fabienne Leukart, 2019 dreimal. Zuvor bekommt der Betreiber in der Regel die Möglichkeit, die Missstände binnen einer Frist zu beheben.

Manchmal greift das Ministerium zu drastischen Mitteln, so wie bei jener Kindestagesstätte in Bous im Sommer 2017, die von einem Tag auf den nächsten geschlossen wurde. Polizei und Staatsanwaltschaft nahmen Ermittlungen auf, drei Jahre später sei der Fall in der Prozedur des Renvoi, teilt die Pressestelle der Justiz mit. Der Fall hat deshalb für viel Aufregung gesorgt, weil Gerüchte von Kindesmissbrauch zirkulierten und besorgte Eltern klagten, sie würden nicht genügend informiert. Man habe daraus gelernt, sagt Leukart, und die Kommunikation verbessert sowie Zuständigkeiten präziser definiert. Allerdings: Das Untersuchungsgeheimnis verbietet es den Behörden, Auskunft über laufende Ermittlungen zu geben.

Für Eltern ist das nicht nur wegen der Ungewissheit angesichts möglicher Straftaten eine sehr belastende Situation, sondern auch weil nicht ohne Weiteres Platz in einer anderen Tagesstätte ist. Die meisten Mütter und Väter sind auf die außerfamiliäre Betreuung angewiesen. Für die Kinder geht mit einer abrupten Schließung oftmals der Verlust von Erziehern und FreundInnen, wichtigen Bezugspersonen, einher. „Wir bemühen uns, Ersatz zu finden, sofern das geht“, sagt Leukart. In Bous kam ein Teil der Kinder in Betreuungseinrichtungen in der Nachbarschaft unter.

Hilfreich wären Richtlinien und Prozeduren, die alle Eltern verstehen. Eine offizielles Formular oder einen Beschwerdeweg auf dem Guichet.lu, auf das der Direktor des SNJ das Land verwiesen hat, ist nicht aufzufinden. Es gebe keine vorgefertigten Beschwerdeformulare, schreibt die Pressestelle des Erziehungsministeriums auf Nachfrage. Weder auf Deutsch, auf Französisch, noch auf Portugiesisch oder Englisch. Der größte Teil der Beschwerden werde an die Emailadresse info@men.lu geschickt.

Der Vater, der seinen Fall über Facebook publik gemacht hatte, hatte sich zunächst an das Erziehungspersonal und den Krippenbetreiber gewandt. Dass das Kind so zerkratzt war, sei normal, so die Antwort; ähnlich sahen dies Erzieherinnen, die sich im Forum zu Wort meldeten. Bei einem Kratzer oder zwei scheint das einleuchtend, aber wenn das Gesicht mit Kratzern übersät ist? An wen sich wenden, falls der Betreiber kein Problem erkennen will oder wenn die jeweiligen Einschätzungen weit auseinanderliegen?

Eine Möglichkeit ist, Experten zu fragen, die täglich mit Kindern arbeiten und Erfahrung haben. In Deutschland hat die Plattform Kinderärzte im Netz einen Leitfaden für den Umgang mit Bisswunden in Krippe und Kita zusammengestellt. Dass ein Kind ein anderes beißt, sei im Kindergarten „keine Seltenheit“. Die Ärzte raten, die Wunde mit Wasser zu säubern, ein Desinfektionsmittel aufzutragen und mit einer Kompresse abzudecken. Generell sind Ansteckungen selten, aber offene Wunden entzünden schneller. Sicherheitshalber raten sie dazu, den Impfschutz zu überprüfen. In einem zweiten Schritt sei dem Beißer freundlich und altersgerecht klar zu machen, dass so ein Verhalten nicht okay ist.

In Luxemburg fehlen derlei Fach-Anleitungen. Vom Land kontaktierte Kinderpsychiater raten Ähnliches. „Dass Kleinkinder beißen und kratzen, kann vorkommen, zumal wenn sie noch sehr klein sind und keine andere Möglichkeit haben, über Sprache ihre Gefühle auszudrücken“, sagt etwa Kinderpsychiaterin Marianne Schilling. Bei einmaligem Kratzen oder Beißen rät sie, die Situation nicht zu dramatisieren, gleichwohl ernstzunehmen: „Wichtig ist, dass das Erziehungspersonal einschreitet, dass Wunden desinfiziert werden und dass den Ursachen nachgegangen wird.“

Das sieht Raymonde Schmitz, Kinderpsychiaterin in Esch-Alzette, genauso: „In der Entwicklungsphase zwischen ein und drei Jahren ist es normal, dass ein Kleinkind Aggressionen hat und sie zeigt.“ Etwa, wenn es frustriert ist, weil es sich nicht mitteilen kann. Oder gestresst, weil zu viele Reize auf es einwirken. „Wichtig ist es, dass die Erzieherinnen herausfinden, warum es zu dem Ausbruch kam, und weiteren Vorfällen vorbeugen.“ Die Psychiaterin hat Verständnis für das Erziehungspersonal, das in so Situationen schnell einschreiten muss und nicht immer alles sofort mitbekommt. – Aber auch für die Eltern. Bisswunden sind schmerzhaft. „Werden so Vorfälle transparent besprochen, hilft das zum gegenseitigen Verständnis.“

Hält die Gewalt an und findet das Kind im Entwicklungsverlauf keine anderen Wege, seine Wut oder Frust auszudrücken, könnte es sein, dass mehr dahintersteckt. Vielleicht gibt es Probleme daheim, oder ein Kind ist von der Gruppe generell gestresst, etwa im Fall von Autismus. Überforderung und Gereiztheit können plötzlich in Aggressionen umschlagen.

„Kratzt, beißt oder schlägt ein Kind immer wieder andere Kinder, dann ist das Verhalten problematisch“, sagt Roland Seligman, allgemein, ohne auf den konkreten Fall einzugehen. Dann heißt es für die Erwachsenen, unbedingt genau hinzuschauen. Der Luxemburger Kinderarzt ist Gründer von Alupse (Association luxembourgeoise de la prévention des sévices à enfants) und hat wesentlich dazu beitragen, dass der Umgang mit Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch in Luxemburg professionalisiert wurde. Für Seligman sind Schulen und Kinderkrippen zur Früherkennung von Kindeswohlgefährdundungen unverzichtbar: Oft sind Erzieher und Lehrer die ersten, denen auffällt, wenn es einem Kind nicht gut geht oder etwas nicht stimmt.

Um Missbrauch und Gewalt bei Kindern und Kleinkindern besser zu erkennen und schnell wirksam eingreifen zu können, hat das Erziehungsministerium zusammen mit der Staatsanwaltschaft, dem Jugendamt, Ärzten und weiteren Experten den Leitfaden Maltraitance de mineur erstellt und in drei Sprachen auf seiner Homepage veröffentlicht. Auch für Scheidungskinder gibt es einen. Zu Gewalt und Aggressionen zwischen kleinen und größeren Kindern fehlt eine solche Orientierung bislang.

Wenn ein Kind beißt

„Kinder verfügen noch nicht über Selbstregulation und Impulskontrolle, was zu Beißen führen kann“, schreibt die Pädagogikprofessorin Dorothee Gutknecht des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung in einem Beitrag für Fachkräfte der Kinderbetreuung auf der Webseite des Instituts. Sie macht drei Bereiche für die Ursachenanalyse aus: die kindliche Entwicklung, die Umgebung und die emotionale Situation des Kindes.

Manche Kleinkinder seien gestresst durch Lärm, weil die Bezugsperson nicht da ist oder ein anderes Kind ihm ein Spielzeug weggenommen hat. Oder sie fühlten sich anderweitig bedrängt, etwa durch Enge und Hektik. Bei anderen sei der Anlass vergleichsweise harmlos, beispielsweise wenn ein Kind zahnt, mundmotorische Erfahrungen oder Aufmerksamkeit in der Gruppe sucht oder schlicht hungrig ist.

Wichtig sei, bei einem Beißvorfall die involvierten Kinder sogleich trennen und als erstes nach dem Kind zu schauen, das gebissen wurde, es zu trösten und zu beruhigen und deutlich zu machen, dass Beißen nicht in Ordnung ist. Das Kind, das gebissen hat, brauche ebenfalls eine zeitnahe Reaktion, „da es sonst keinen Bezug mehr zu seinem Beißen herstellen kann“, da die Aufmerksamkeitsspanne in dem Alter sehr kurz ist. Die Reaktion muss rasch, deutlich formuliert und „dem Sprachverständnis des Kindes angepasst“ sein. Die Expertin empfiehlt „eine klare Situationsbeschreibung“, etwa bei einem Streit um ein Spielzeug. Etwa so: „Du hast Anna mit Deinen Zähnen weh getan, weil sie Deinen Laster wollte.“ Das sei nicht okay. „Du kannst Anna Nein sagen.“ Perspektivenwechsel seien „nicht zielführend“, weil sich Kleinkinder noch nicht in andere Personen hineinversetzen können; das lernen sie erst allmählich.

Weil Überforderung und Stress oft hinter Beißen steht, rät Gutknecht weiter: „In der Entwicklungsberatung müssen pädagogische Fachkräfte daher gemeinsam mit den Eltern die Stressregulation des Kindes als eine gemeinsame Aufgabe angehen.“ Welche Situationen lösen Stress aus? Wie baut das Kind Stress am besten ab? Wie lässt sich die Stressbelastung zuhause und in der Kindertagesstätte reduzieren? Das seien wichtige Fragen, um solche Verhaltensweisen zu verstehen und gegensteuern zu können, zum Beispiel mit mehr Bewegung, echten Ruhepausen, mehr Raum, aber auch durch klare Bezugspersonen, eine kompetente Aufsicht und eindeutige Verhaltensanreize für das beißende Kind.

(Aus: Interventionsmöglichkeiten beim Beißen, nach Dorothee Gutknecht 2010, 2012)

Ines Kurschat
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