„Wer zahlt, bestimmt.“ Nach diesem Motto trotzt Wirtschaftsminister Etienne Schneider dem Welt­konzern Arcelor-Mittal selbstbewusst verbindliche Engagements ab

Die Schneider-Doktrin

d'Lëtzebuerger Land vom 30.03.2012
Lux2016 heißt das Abkommen der Stahltripartite, das die Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Industrie über die kommenden Jahre hinweg definiert. Am Mittwoch setzten Regierung und Sozialpartner ihre Unterschrift aufs Papier. Das wurde auch Zeit, schließlich war das Vorgängerabkommen, Lux 2011, bereits Ende vergangenen Jahres ausgelaufen und bis Ende März verlängert worden. Nachdem es im Sommer 2011 erst durch einen Hilfsplan für die defizitäre Firmeneinheit Arcelor-Mittal Rodingen und Schifflingen (AMRS) ergänzt wurde, um das Werk vergangenen Herbst erst vorläufig und vergangene Woche auf unbestimmte Zeit einzumotten. Eine Vorgehensweise, aus der nicht wenige Leute schlussfolgerten, Arcelor-Mittal halte sich nicht an geschlossene Vereinbarungen. Dieses Risiko wollten Regierung und Arbeitnehmer diesmal nicht eingehen und forderten deswegen selbstbewusster als zuvor bindende Engagements. Das ist nicht die einzige Veränderung, seit 2008 um das Vorgängerabkommen Lux2011 verhandelt wurde. Das betrifft zu allererst die Dimen-sionen des Abkommens. Lux2011 hatte vorgesehen, dass bei schlechter Konjunktur bis zu 485 Arbeitsplätze an den verschiedenen Produktionsstandorten abgebaut werden könnten. Lux2016 sieht den Abbau von maximal 1 100 Stellen vor. Rund ein Sechstel aller Stahlarbeiter im Land. In dieser Maximalzahl sind die 540 ARMS-Mitarbeiter, die seit Anfang 2011 auf andere Werke oder in die Cellule de reclassement verteilt wurden, inbegriffen. Das heißt, dass voraussichtlich weitere 560 Stellen dem Rotstift zum Opfer fallen. Darunter die verbleibende Belegschaft von 350 ARMS-Mitarbeitern, 107 Mitarbeiter des TLM-Werks der Beltrame-Gruppe in Esch-Alzette, 24 Mitarbeiter von CFL-Cargo sowie weitere rund 80 Stellen in anderen Werken der Arcelor-Mittal-Gruppe. Geändert hat sich aber auch die Haltung der Regierung, was nicht zuletzt an der Neubesetzung der Chefsessel in Arbeits- und Wirtschaftsministerium liegt. Der damalige Arbeitsminister François Biltgen (CSV) hatte bei den Verhandlungen 2008 noch auf die Abschaffung der Préretraite ajustement hingearbeitet und den Arbeitgeberbeitrag an den Vorruhestandszahlungen von zehn auf 30 Prozent erhöht. In Lux2011 war der Ausstieg aus der Préretraite ajustement festgehalten worden, da „grace à la mise en œuvre du présent accord, la sidérurgie luxembourgeoise pourra mener à terme son ajustement structurel“. 2012 sieht das ganz anders aus. Das neue Abkommen wird den Staat über den Beschäftigungsfonds, der die betriebsinterne Auffangstruktur Cellule de reclassement finanziert, zwischen 150 und 155 Millionen Euro kosten. „Kein Geschenk an Arcelor-Mittal“, wie Vorstandmitglied Michel Wurth am Mittwoch unterstrich. Diese Gelder müsste der Beschäftigungsfonds auch ohne Sektor-Abkommen zugunsten der betroffenen Arbeitnehmer auszahlen, wenn Arcelor-Mittal Kurzarbeit beantragen oder Entlassungen vornehmen würde. Im Gegenzug verpflichtet sich Arcelor-Mittal, zwischen 150 und 200 Millionen Euro in den Unterhalt der bestehenden Werke zu investieren. Allerdings ist die Regierung in Person von Arbeitsminister Nicolas Schmit und Wirtschaftsminister Etienne Schneider (beide LSAP) bereit, sich das Abkommen zusätzliche 60 Millionen Euro kosten zu lassen. Dadurch, dass der Arbeitgeberbeitrag an der Préretraite ajustement von 30 auf null Prozent gesenkt wird, die maximale Kurzarbeitsdauer von sechs auf zehn Monate erhöht wird und der Beschäftigungsfonds auch Lohnausfälle kompensiert, wenn Arcelor-Mittal Personal verleiht, zum Beispiel an Gemeinden und Staat. Natürlich sollen die neuen Spielregeln nicht Arcelor-Mittal vorbehalten bleiben, sondern allgemeine Gültigkeit erhalten, wie Schmit und Schneider am Mittwoch unterstrichen. Aber dieses Zëckerchen hat die Regierung an Bedingungen geknüpft, die Schneider mit klaren Worten verteidigt. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“, zitiert er die Weisheit, die Walther von der Vogelweide zugerechnet wird. Wenn der Konzern, der gerade gute Ergebnisse vorgelegt und die Manager-Boni erhöht hat, vom Staat solche Summen erhalte, ginge es gar nicht anders. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, lautet die Ansage. Die zusätzlichen 60 Millionen aus dem Beschäftigungsfonds gibt es für Arcelor-Mittal deswegen nur, wenn die Firma zwischen 200 und 250 Millionen Euro in die Erneuerung und die Weiterentwicklung der Walzstraße 2 in Esch-Belval investiert, die auf Spundwände spezialisiert ist. Im Abkommen ist daher eine Kontrollklausel vorgesehen. Sollten die Unternehmensgremien am Ende ihrer strategischen Analyse über die Spundwandherstellung schlussfolgern, dass nicht in Belval investiert wird, fallen die zusätzlichen Gelder weg. Durch das Lux2016-Abkommen entsteht zudem ein neues Kontrollgremium, ein Investitionsüberwachungskomitee der Sozialpartner, das regelmäßig überprüft, ob die Investitionen wie versprochen ausgeführt werden. Zwar folgt auch dieses Vorgehen dem altbekannten Muster, das der grüne Abgeordnete Felix Braz am Dienstag im Parlament beschrieb: Der Staat bezahlt den Stellenabbau in der Stahlbranche, damit sich Arbed, Arcelor oder Arcelor-Mittal im Gegenzug verpflichten, durch Investitionen den Standort zu erhalten. Dass die Regierung den Konzern aber eine derartige Bringschuld abringt, gab es vorher nicht. Eine Wahl hatte die Firmenleitung kaum. „Ich habe klar gesagt, ohne Klausel kein Abkommen“, sagt Schneider. Ob es am jugendlichen Idealismus und Tatendrang des neuen Ministers liegt oder ob der studierte Volkswirt tatsächlich ein Verfechter des starken Staats ist – mit seiner Haltung im Dossier Arcelor-Mittal sowie in Sachen Cargolux (siehe nebenstehenden Artikel) verabschiedet er sich von der Logik des Ausgeliefert-Seins der vergangenen Jahre. Die neue „Schneider-Doktrin“ könnte man also wie folgt resümieren: der Staat, als Gesetzgeber, hat eine Rolle zu spielen und kann etwas bewirken. Auch in Branchen, die dem globalen oder zumindest europäischen Wettbewerb ausgesetzt sind, muss er nicht nur zusehen, wie Entscheidungszentren und Arbeitsplätze verlagert werden, wenn es um vitale nationale Wirtschaftsinteressen geht. Seine Taktik, sagt Schneider, habe er mit dem Aufsichtsratsvertreter des Staats, seinem Amtsvorgänger Jeannot Krecké, eng abgesprochen. Aber auch sonst spricht er ziemlich viel und offen. Ohne viel Firlefanz wurde am Mittwoch der finanzielle Umfang des Abkommens genannt, getreu dem Motto, wenn der Staat zahlt, muss er sich dafür nicht schämen. Noch 2008 wurde diese Zahl, getreu dem Motto, über Geld spricht man nicht, wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Im Essentiel von vergangenen Freitag kündigte Schneider seine Verhandlungstaktik für Arcelor-Mittal an und gab obendrein noch die Geschäftsergebnisse von Cargolux bekannt, vor deren Hauptversammlung – auch das gehört zum neuen Schneider-Stil. Im Laufe dieses Jahres wird sich Arcelor-Mittal eine Spundwand-Strategie geben, prüfen, welche neuen Märkte man erschließen, welche Profil- oder Materialverbesserungen möglich sind, und ob und wie viel dazu in Belval investiert werden muss, erklärte Michel Wurth am Mittwoch. Spätestens im November 2013 soll die Stahltripartite dann wieder zusammenkommen, um zu klären, ob der Handel 60 Millionen Euro zusätzliche Mittel aus dem Beschäftigungsfonds gegen 200 bis 250 Millionen Investitionen in Belval gilt. „Natürlich investiert Arcelor-Mittal nicht nur in Belval, weil wir ihnen 60 Millionen geben. Die Investition muss sich tragen“, relativiert Schneider. „Es könnte aber dafür ausschlaggebend sein, dass diese Investitionen nicht auf der anderen Seite der Grenze gemacht werden.“ Dass Arcelor-Mittal bereit ist, ihre Experten mit den Experten von Regierung und OGBL, eine Studie der Gewerkschaft prüfen zu lassen, die erörtert, ob ARMS als Mini-Mill weiter funktionieren könnte, zeigt, wie gut sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer verstehen können, wenn der Dritte am Tisch, also der Staat, zahlt. So bedauerten sowohl die Vertreter der Konzernleitung wie die Gewerkschaften die „einstweilige“ Schließung von ARMS. „Das ist auch für den Patron nicht schön“, dixit Michel Wurth. „Der Abbau so vieler Stellen hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack“, so Patrick Dury, LCGB-Präsident. Dennoch gingen alle zufrieden vom Tisch. Der Wirtschaftsminister möchte einen weiteren Erfolg für sich verbuchen. Nämlich, dass man den Stahlkonzern überreden konnte, dem Staat einen Teil seiner Liegenschaften quer durchs Land zu verkaufen, auf den Wohnungen oder Aktivitätszonen entstehen sollen. „Nix da, Brachen“, sagt Schneider. Es gehe um sauberes Land, das der Staat nicht für teures Geld sanieren muss, stellt er klar. Der zuständige Finanzminister Luc Frieden (CSV) soll die Verhandlungen führen. Ob der ein paar Groschen in seinem Geldsäckel findet? Immerhin, sagt Schneider: Die Regierung habe seinen Kurs des starken Staates in Sachen Cargolux einstimmig unterstützt und für die letzten Verhandlungen in der Stahltripartite konnte er sich gar auf eine Parlamentsmotion stützen, die ihn beauftragte, Arcelor-Mittal feste Vereinbarungen abzutrotzen.
Michèle Sinner
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