Neue Aufgaben für Deutschland und Europa

Welt ohne Polizist

d'Lëtzebuerger Land du 27.06.2014

„Deutschland ist in gewisser Weise dazu verdammt, eine immer wichtigere Rolle zu spielen“, sagte vor Kurzem Henry Kissinger, Ex-US-Außenminister, Friedensnobelpreisträger und, vielleicht, Kriegsverbrecher (wegen der Bombardierung des neutralen Kambodschas während des Vietnamkriegs), zur deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen: Muss sich die Europäische Union also darauf einstellen, dass Deutschland nicht nur die europäische Wirtschafts-, sondern auch die europäische Außenpolitik entscheidend bestimmt? Steht der europäische Kontinent damit, gerade so wie es die englische Presse oft thematisiert, auch außenpolitisch vor einer deutschen Dominanz, der sich die anderen EU-Staaten nolens volens unterordnen müssen?

Zwei Entwicklungen tragen zu einer neuen Rolle Deutschlands in der Außenpolitik bei. Die erste liegt außerhalb der EU. Die Welt wird gerade neu aufgeteilt. Russland will seine westlichen „Frontstaaten“ kontrollieren und nicht Teil eines partnerschaftlichen wirtschaftlichen Modernisierungsprozesses sein, der auf demokratischen Spielregeln beruht, die die EU vorgibt. China will im Südchinesischen Meer unangefochten schalten und walten und die vorhandenen Bodenschätze ungestört ausbeuten. Die arabisch-islamische Welt steht am Beginn eines Krieges, der den Schrecken und die Ausmaße des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert annehmen kann. Bleiben die USA. Deren Präsident Barack Obama sagt es deutlich und wiederholt es so oft, dass auch der Letzte den Kanonenschuss hört: Amerika wird in Zukunft unilateral nur noch dann militärisch eingreifen, wenn seine Kerninteressen bedroht sind. In allen anderen Fragen von globaler Bedeutung wird Amerika nicht mehr als Weltpolizist agieren, sondern nur noch in einer internationalen Allianz, am besten unter dem Dach der Uno, was China und Russland ein Vetorecht einräumen würde.

Die zweite Entwicklung betrifft die Europäische Union. Deutschland ist mittlerweile so stark geworden, wie es François Mitterand immer befürchtet hat, als es 1989 um die Frage der deutschen Wiedervereinigung ging. Diese Stärke beruht allein auf der wirtschaftlichen Kraft Deutschlands. Beleg? Über den Fortbestand des Euros hat am Ende der Deutsche Bundestag beschlossen und niemand sonst. Frankreich hat sich mit seiner Weigerung, sich zu reformieren, aus dem Spiel genommen. Das Land muss sich grundlegenden Strukturreformen unterwerfen, deren positive Auswirkungen leicht zehn Jahre auf sich warten lassen können. Erst danach hat Frankreich die Chance wieder zur ersten europäischen Adresse zu werden. Reformen vorausgesetzt, wird es Deutschland langfristig mit Hilfe der Demografie den Rang ablaufen.

Bis dahin ist die Bundesrepublik gefordert. Schon im Januar hat der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz gemahnt, dass Deutschland nicht mehr nur Trittbrettfahrer sein könne, sondern mehr Verantwortung bis hin zu Militäreinsätzen übernehmen müsse. Mitte Juni hat er in einem Radiointerview nachgelegt. Gauck fordert, dass sich Deutschland, eingebunden durch EU, Nato und UN, auch militärisch in Aktionen engagiert, die man getrost als weltpolizeiliche Einsätze bezeichnen könnte. Rund zwei Drittel aller Deutschen lehnen eine solche deutsche Rolle in dieser pauschalen Formulierung ab. Sie wünschen sich, dass ihre Sicherheit lieber wie bisher von den Amerikanern garantiert wird und dass sich Deutschland ansonsten so weit wie möglich aus Konflikten heraushält.

Deutschland ist auf den doppelten Druck der sich stark verändernden außenpolitischen Realitäten und der Erwartungen anderer Akteure wie den USA nicht vorbereitet. Wie wenig, das zeigt auch die Reihe Review 2014 – Außenpolitik weiterdenken des deutschen Außenministeriums, deren zentrale Frage lautet: „Was ist falsch an der deutschen Außenpolitik?“. Eine Frage, die weder Frankreich noch Großbritannien jemals ihrer Öffentlichkeit vorlegen würden, geschweige denn, dass sie sie zur Leitfrage eines monatelangen Diskussionsprozesses machen würden.

Das hat gute und schlechte Seiten. Die gute Seite zeigt sich daran, dass Deutschland in der Außenpolitik (noch) nicht so triumphierend gegenüber seinen europäischen Partnern auftritt, wie es das teilweise in der Euro-Schuldenkrise getan hat. Die schlechte Seite bedeutet, dass die unausgereifte deutsche Politik nicht nur keine Anstöße für die europäische Sicherheitsarchitektur gibt, sondern dass sie auch das europäische Gewicht in der Welt unnötig verkleinert. Wirtschaftlich ist die EU ein Riese, politisch ist sie ein Zwerg, sicherheitspolitisch ein amerikanischer Satellit. Damit konnten alle gut leben, solange die USA die UdSSR in Schach hielten und alle anderen draußen. Doch das ist Schnee von gestern. Heute sind alle „drinnen“ und das ist das Problem. Je länger das 21. Jahrhundert dauert, desto mehr muss Europa auch sicherheitspolitisch selbst für sich einstehen.

So wie es Deutschland schwerfällt, den außenpolitischen Status einer Riesen-Schweiz aufzugeben, so wenig sind Großbritannien und Frankreich darauf vorbereitet, sich den neuen Realitäten zu stellen. Beiden Ländern kommt es darauf an, so viel wie möglich an Souveränität zu retten. Das ist eine vergangenheitsbesessene Haltung, die weit davon entfernt ist, die sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Tage souverän anzugehen. Alle europäischen Akteure haben Mühe, ihre politischen Analysen in angemessene Initiativen münden zu lassen. Über eine „smart defence“, die Fähigkeiten und Ausrüstung von Nato-Mitgliedstaaten besser aufeinander abstimmen soll und einer Rüstungszusammenarbeit zwischen Frankreich und Großbritannien, die nur schwer in Fahrt kommt, gibt es wenig Greifbares. Offiziell verringert Frankreich die deutsch-französischen Brigaden aus Kostengründen. Der tiefere Grund wird sein, dass Frankreich die Brigaden in Zeiten knapper Kassen nicht ohne die Zustimmung des Bundestages im Ausland einsetzen kann und es sich ein Luxusgut, das über reine Symbolkraft nicht hinauskommt, nicht länger leisten will.

Die deutsch-französischen Brigaden erinnern daran, dass europäische Sicherheitspolitik immer auch die Eindämmung Deutschlands bedeutete. Die Vorläuferorganisation der Nato, der Brüsseler Pakt, war ausdrücklich nicht nur gegen die Sowjetunion, sondern auch gegen Deutschland gerichtet. Französische Atomraketen konnten sehr lange nicht weiter als bis nach Deutschland fliegen. Mit der neuen Stärke Deutschlands und den neuen außen- und sicherheitspolitischen Gefahren stellt sich auch die Frage nach der Einbindung Deutschlands neu. Die Nato wird in Zukunft nicht mehr die einzige Antwort sein.

Die EU braucht eigene militärische Strukturen, wenn es eine Rolle spielen will. Das wäre jedenfalls unvergleichlich besser als intergouvernementale Absprachen zwischen Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Der französische Außenminister Robert Schuman hat am 9. Mai 1950 mit seiner berühmten Erklärung den Anstoß zur europäischen Integration gegeben, weil er mit dem Äußersten, das heißt, mit der Aufgabe französischer Souveränität im Kohle- und Stahlbereich, verhindern wollte, dass Deutschland die alleinige Kontrolle über das Ruhrgebiet zurückerhielt. Wer von den führenden europäischen Politikern hat heute die Kraft, das Undenkbare einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik und Armee vorzuschlagen, damit sich Europa in den kommenden Krisen aus eigener Kraft behaupten kann?

Christoph Nick
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