Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

Die Beichte der Häscher

d'Lëtzebuerger Land du 21.02.2020

Demokratie ist am schönsten, wenn der Hund seinem Herrchen die Leine apportiert. Hat er Hunger und knurrt er, bekommt er einen Tritt. „[I]ch find, daß z. B. auch Hunde, wenn sie gut gefressen haben, ehr demokratisch ausschaun“, heißt es in Brechts Flüchtlingsgesprächen.

Für den Konsens, mit dem die subalternen Klassen die Herrschaft der Besitzenden hinnehmen und deren Interessen als die nationalen ansehen, sind – lautstark und farbenfroh – Parteien, RTL, Presse, Bistum und Oberlehrer zuständig. Um den Tritt kümmert sich der stille, graue Service de renseignement.

Im Auftrag des Premierministers ließ der Geheimdienst zwei Historikern eine kleine Auswahl von 116 438 Karteikarten, 816 000 Dokumenten auf Microfiches und 364 000 auf Mikrofilmen zurück, die er im Laufe von vier Jahrzehnten gesammelt hatte und nicht mehr brauchte. Über eine Million Kärtchen und Dokumente zur Überwachung eines Landes mit damals nicht einmal 400 000 Einwohnern ließe selbst Edgar Hoover und Felix Dserschinski neidisch werden.

Der von den USA gesteuerte Dienst musste ausländische Botschaften, Reisende und Firmen ausspionieren. Aus zeitgenössischen Berichten ist bekannt, dass er bei Streikvorbereitungen von Gewerkschaften präsent war und sich gegenüber den Bommeleeërten dümmer stellte, als die Polizei erlaubt. Aber „[l]a principale mission du SREL“ war laut Historikerbericht „la lutte contre la menace commu-
niste“. Die vor allem aus Bergleuten und Stahlarbeiterfamilien bestehende Kommunistische Partei unterschied sich von allen anderen Parteien dadurch, dass sie den demokratischen Konsens aufgekündigt und die herrschenden Besitzverhältnisse abgelehnt hatte. Und da hört der Spaß auf.

Dass der direkt dem Regierungschef unterstellte Dienst bis mindestens 1985 Abgeordnete rund um die Uhr abhörte, Maulwürfe in kommunistischen Organisationen und linken Splittergruppen bezahlte sowie aus jedem Gendarmeriebezirk Listen der „Elcom“, der éléments communistes, bezog, führten die Historiker, der Premier und die Presse auf gut gemeinten Übereifer im Kalten Krieg zurück. Aber Polizei, Gendarmerie und Sûreté kämpften schon lange vor dem Kalten Krieg dafür, dass der Herr Herr und Max Max bleiben.

Der Historikerbericht schließt 2001. In dem Jahr bescherte der Anschlag auf die Twin Towers den vom Schiffbruch der Sowjetunion depressiv gewordenen Spionen eine neue Daseinsberechtigung. Sie gaben ihre Zettelkästen und Mikrofilme für leistungsfähigere Computer auf. Diese bekamen die Historiker nicht zu sehen.

Die Entblößung des Geheimdienstes hat einen doppelten Grund: DP-Premier Xavier Bettel wollte vorführen, wie undemokratisch und heimtückisch die CSV-Patriarchen von Pierre Werner bis Jean-Claude Juncker das Land regierten. Für den Geheimdienst ist der Skandale und Grauzonen diskret übergehende Bericht nach dem Erdbeben von 2013 eine fromme Beichte. Nun erwartet er eine Lossprechung ohne Reue.

Romain Hilgert
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