Tarifabkommen

Interpretationsdivergenzen

d'Lëtzebuerger Land vom 05.07.2013

OGBL und Arbeitgeberverbände werfen sich gegenseitig Desinformation vor, wenn es um die Forderungen der Tarifparteien in der Baubranche geht. Dabei haben sie vielmehr echte „Interpretationsdivergenzen“ und zwar in ganz konkreten Punkten. Im Kern geht es um das System der Schlechtwetterentschädigungen. Bis 2007 übernahmen Mitarbeiter und Arbeitgeber die Kosten für jeweils einen Tag, bevor am dritten Tag der Beschäftigungsfonds 80 Prozent der Mitarbeiterlöhne übernahm. Seither müssen die Betriebe beide Tage übernehmen, bevor der Fonds einspringt, und dies jeden Monat, wenn die Baustellen schlechtwetterbedingt stillstehen, auf ein Neues. „Bei 50 Mitarbeitern und einem Durchschnittsstundenlohn von 15 Euro, sind das 36 000 Euro“, rechnet Patrick Koehnen von der FDA vor. „Das können sich die Betriebe nicht mehr leisten.“ Deswegen schlagen die Arbeitgeber vor, im Sommer Überstunden zu leisten, die im Winter gestundet werden könnten. Werden die Überstunden dann noch als Überstunden bezahlt? Daran scheiden sich die Geister.

40 Prozent im Sommer, 100 Prozent im Winter Nach Vorstellung der Arbeitgeber sollen die Mitarbeiter den Überstundenaufschlag von 40 Prozent direkt im Sommer erhalten. Den Basislohn von 100 Prozent sollen sie hingegen im Winter erhalten, wenn die Überstunden schlechtwetterbedingt abgefeiert werden. Das habe für die Arbeiter den Vorteil, dass sie während der Schlechtwetterperioden 100 Prozent, statt 80 Prozent ihres Lohnes erhielten.

140 Prozent im Sommer, 80 Prozent im Winter Eine Darstellung der Faktenlage, die für den OGBL nicht die Wahrheit wiedergibt. Denn die Arbeiter würden nicht mehr, sondern weniger Geld erhalten. Werden im Sommer Überstunden gemacht, während im Winter witterungsbedingt die Baustellen stehen, erhalten sie nach dem aktuellen Regime 140 Prozent Lohn für die im Sommer geleisteten Überstunden und 80 Prozent Lohn, für die Stunden, die sie nicht arbeiten können. Nach dem System der Arbeitgeber, rechnet der OGBL vor, würden den Mitarbeitern je nach Stundenlohn pro aufgearbeiteter Woche zwischen 520 und 877 Euro entgehen. Viel Geld in einem, wie OGBL-Gewerkschaftssekretär Jean-Luc De Matteis sagt, Niedriglohnsektor, in dem viele Beschäftigte nicht mehr als den Mindestlohn verdienten. „Ist das normal, das man 80 Prozent seines Lohnes erhält, um zu Hause zu bleiben?“, fragt Patrick Koehnen von der FDA und gibt die Antwort selbst: „Das ist nicht normal.“ Dabei gelten im Falle von Kurzarbeit die gleichen Bedingungen.

Auch über die Anpassung der Tariflöhne sind sich Gewerkschaft und Arbeitgeber uneins. Letztere schlagen für die Jahre 2013, 2014 und 2015 jeweils eine Erhöhung der Tariflöhne um 0,5 Prozent vor oder eine einmalige Prämie von 300 Euro. Ein Angebot, das an die Arbeitszeitflexibilisierung gebunden ist. Worauf der OGBL nicht eingehen will, der seinerseits jeweils ein Prozent rückwirkend für die Jahre 2009 bis 2011 und 1,5 Prozent für die Periode von 2012 bis 2015 fordert sowie eine Steigerung der Jahresendprämie von einem Prozent. Der LCGB zeigte sich am Dienstag bereit, über eine bessere Organisation der Jahresarbeitszeit (also der Aufteilung zwischen Winter und Sommer) zu diskutieren. Unter der Bedingung, dass die aktuellen Schlechtwetterentschädigungen nicht verändert würden. Dafür zählte die Minderheitsgewerkschaft Beispiele aus den Nachbarländern auf, bei denen die Wochenarbeitszeit allerdings überall deutlich unter der in Luxemburg liegt.

Dabei fehlen für eine fundierte Diskussion über die Arbeitszeitorganisation und die Überstundenregelungen immer noch elementare Informationen. Denn bei den Arbeitgeberverbänden weiß man offiziell nicht, wie viel Überstunden überhaupt in den Branche geleistet werden. „Woher?“, fragt Paul Faber vom Groupement des entrepreneurs von der Fedil, der auf die große Anzahl von Unternehmen hinweist, die man unmöglich befragen könnte. Doch um den Arbeitnehmern die Aussage abzunehmen, sie seien mit ihrer Arbeit zufrieden, hatten die Arbeitgeberverbände keine Kosten und Mühen gescheut und das Marktforschungsunternehmen Ilres beauftragt, auf die Baustellen zu gehen...

Ob der LCGB sich dem OGBL anschließt, wenn dieser zum Streik aufruft, scheint angesichts des Briefes, den die christliche Gewerkschaft den Arbeitgebern diese Woche geschickt hat, nicht auszuschließen. Falls das Tarifabkommen seine Gültigkeit verliere, werde man alle gewerkschaftlichen Mittel in Betracht ziehen, um die sozialen Errungenschaften zu verteidigen, schrieb der LCGB den Arbeitgebern. Beim Groupement des entrepreneurs, sagt Paul Faber, prüft man indes die rechtlichen Mittel, die den Unternehmen zur Verfügung stehen, um gegen die Streikenden vorzugehen. Sollte der Streik illegal sein, so Faber – und diesen Verdacht hegt er, weil der OGBL nicht alle Mitglieder, sondern nur die in einer begrenzten Zahl von Unternehmen befragt –, wolle man dies durchaus tun.

Michèle Sinner
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