Innerhalb von knapp drei Wochen nahmen die Covid-19-Fälle von einem auf 335 zu und bis gestern wurden vier Todesfälle gezählt. Im État de crise rüstet Luxemburg sich für den sanitären Notstand

Mit dem Schlimmsten rechnen

d'Lëtzebuerger Land vom 20.03.2020

„Hänn wäschen!“, rief Premier Xavier Bettel (DP) vor einer Woche per Internet-Stream seinen Landsleuten zu. Diesen Mittwochabend mahnte er eindringlich: „Bleift doheem!“ Die Botschaften variieren mit der Fallzahl: Am 29. Februar war in Luxemburg der erste Covid-19-Patient ermittelt worden. Damals war das ein „importierter Fall“, wie das im Fachjargon der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gennant wird. Seit vergangener Woche ist klar, dass das Coronavirus Sars-CoV-2 auch hierzulande „lokal übertragen“ wird. Da lag die Fallzahl bei 19. Am gestrigen Donnerstagvormittag betrug sie 335. Und waren am Mittwoch noch zwei Todesfälle gezählt worden, waren es gestern, dem Tag eins des État de crise, vier.

Das ist eine dramatische Entwicklung, die aber ganz dem Verlauf einer Epidemie entspricht: Am Anfang gibt es ein paar Fälle, danach nehmen sie exponentiell zu, um einem Höhepunkt entgegenzustreben. Der wird ungefähr erreicht, wenn 70 Prozent einer Bevölkerung infiziert waren und dadurch entweder Immunität erworben haben oder an der Infektion verstorben sind, wenn man es emotionslos ausdrückt. Anschließend geht der Erreger nach und nach an sich selber zugrunde, weil er sich immer schlechter ausbreiten kann. Steht ein Impfstoff zur Verfügung, geht das noch schneller, aber noch ist keiner in Sicht, und Expertenmeinungen nach werde das noch zwölf Monate lang so bleiben, vielleicht auch 18.

Wahrscheinlich haben in den letzten Tagen viele Bekanntschaft mit mathematischer Statistik und der Gauß’schen Glockenkurve gemacht, die die Verteilung der Infektionen in einer Epidemie beschreibt. Denn unter dem Hashtag #flattenthecurve wird erzählt, worauf es jetzt ankommt: Die Glockenkurve abflachen. Dafür sorgen, dass sich möglichst wenige auf einmal anstecken. Verhindern, dass viele gleichzeitig so krank werden, dass sie eine stationäre Behandlung benötigen, und vor allem, dass in den Krankenhäusern viele Patienten auf einmal künstlich beatmet werden müssen. Träte das ein, könnte das Gesundheitssystem schnell an seine Grenzen kommen. So wie in Norditalien, wo Ärzte die schreckliche Entscheidung treffen müssen, wen sie beatmen, oder wie im elsässischen Mulhouse, wo die Lage ebenfalls schon so weit eskaliert ist. „Wir spielen auf Zeit“, sagte Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) am Montag. Soll heißen: Die Zahl neuer Fälle soll möglichst klein gehalten, gleichzeitig die Versorgungskapazität ausgebaut werden. Dass Romain Nati, der CHL-Generaldirektor, am Montag twitterte: „Mir sinn am Krich, hëlleft eis“, war der Ruf, sich in der kollektiven Anstrengung „social distancing“ zu versammeln und – daheim zu bleiben. Jedenfalls die, die das können. Mitarbeiter des Gesundheits- und Pflegewesens können es nicht, vor allem dann, wenn es schlimmer wird.

Dabei scheint Luxemburg nicht schlecht gerüstet für die Covid-Epidemie, besser als manche anderen Länder. Die Spitäler verfügten über zusammengenommen 169 Intensivbetten, sagte Françoise Berthet, die stellvertretende Direktorin des Gesundheitsamts, am Montag. Rechnet man das auf die Bevölkerung hoch, ist in Großbritannien zum Beispiel die Versorgungslage vier Mal schlechter als hier. Und noch sind am Nationalen Dienst für Infektionskrankheiten am CHL nur wenige Covid-Patienten hospitalisiert: Am Montag waren das von 140 positiv Getesteten neun, in Intensivpflege war einer. Am Dienstag hatte sich die Zahl der Hospitalisierten „leicht erhöht“, sagte CHL-Chef Nati im Radio 100,7, ohne deutlicher zu werden, auf der Intensivstation lag weiterhin nur ein Patient.

Doch das kann sich ändern. Auch der Bedarf an künstlicher Beatmung für Patienten mit Komplikationen. Über „120 bis 150“ Beatmungsgeräte verfügten die Spitäler insgesamt, sagte Berthet am Montag noch. Eine kurzfristige Erhöhung um 30 Geräte sei geplant. Sie ist Teil jener Lieferung, die zu erhalten die Regierung laut Paulette Lenert auch sämtliche diplomatische Vertretungen im Ausland mobil gemacht hat. Zwei Cargolux-Maschinen würden die wertvolle Fracht herbei fliegen, darunter auch Atemschutzmasken für Professionelle im Gesundheits- und Pflegewesen.

Doch auch diese Kapazität könnte an ihre Grenzen kommen, falls es viele schwerere Fälle auf einmal gibt. Im CHL, so Romain Nati, werde ein Patient typischerweise 14 bis 21 Tage lang beatmet. So lange ist ein Apparat blockiert. „Wir beginnen mit der Beatmung früh, um Schäden an der Lunge so klein wie möglich zu halten.“ Was impliziert, dass Ärzte sich womöglich vor Entscheidungen gestellt sehen könnten, kürzer zu beatmen und stärkere Lungenschädigungen zulassen zu müssen, falls die Epidemie schlimmer wird.

Und offenbar sind es nicht nur Ältere, bei denen das Coronavirus eine Infektion auslöst, die nicht einfach daheim auskuriert werden kann. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel sind 40 Prozent der Patienten, die so stark erkrankten, dass sie stationär behandelt werden müssen, zwischen 20 und 54 Jahre alt, zitierte die New York Times gestern aus neuesten Daten des US-amerikanischen Center for Disease Control and Prevention.

Für Luxemburg kommt erschwerend hinzu: Kritischer als die lebenserhaltenden Apparate ist das Personal, das sie bedient. „Ganz eindeutig“, so die stellvertretende Gesundheitsamtschefin. So ist es zu verstehen, dass alle vier großen Krankenhausgruppen jetzt schon ihre Aktivitäten reduziert, geplante chirurgische Eingriffe, die nicht dringend sind, verschoben haben und ambulante Behandlungen drastisch reduziert wurden: Damit wird die wertvolle Arbeitskraft geschont. Die Klinikärzte seien in zwei Gruppen eingeteilt worden, berichtete Alain Schmit, der Präsident des Ärzteverbands AMMD, am Mittwoch im RTL-Radio. Die eine Gruppe ist im Einsatz, die andere ruht sich aus. Für das Pflegepersonal gilt Ähnliches: „Wer abkömmlich ist, erholt sich“, so Anja Di Bartolomeo, Pressesprecherin des Centre hospitalier du Nord. Im Rotationsverfahren bis zum großen Einsatz, die anderen Spitäler machen das auch so. Und treffen außerdem Vorkehrungen, um die Patientenflüsse zu trennen. Vor dem Ettelbrücker Krankenhaus etwa haben Armeeangehörige vergangene Woche ein Zelt errichtet. In dem wird ermittelt, wer infektiös ist und wer nicht.

Der Trennung der Patientenflüsse dienen auch die neu eingeführte „Telekonsultation“ und die „Filière respiratoire“ an den Maisons médicales, wie die Gesundheitsministerin das am Dienstag im Parlament nannte. Täglich zwischen 8 und 16 Uhr sollen sich sich in den Maisons médicales Patienten mit Atemwegserkrankungen melden, aber auf ärztliches Anraten hin, das vorher per Telekonsultation eingeholt werden soll. In den Maisons médicales – neben den drei in Ettelbrück, Esch/Alzette und dem Stater Bahnhofsviertel soll eine vierte im Osten eröffnet werden – werde „systematisch“ und „massiv“ auf Covid-19 getestet, kündigte die Gesundheitsministerin am Dienstag an. Neben dem Laboratoire national de santé führen nun auch die drei Privatlabors Tests aus. Die Laboratoires Réunis betreiben drei Drive-through-Stationen in Junglinster, Kärjeng und Marnach. Ketterthill hat drei Blutentnahmezentren in Luxemburg-Cloche d’or, Bettemburg und Diekirch ausschließlich für Covid-Tests reserviert. Bionext sucht mit seinem Dienst Picken doheem Patienten zu Hause auf.

In der sanitären Krise, die derzeit herrscht, wird auch an Bevölkerungsgruppen gedacht, die sonst oft durchs Raster der Gesundheitsversorgung fallen: Obdachlose und Drogenabhängige, die auf der Straße leben, etwa. „Ich bin positiv überrascht vom Zusammenspiel zwischen Gesundheitsministerium, Familienministerium, Caritas und Croix-rouge, Lösungen zu finden“, sagt Yann Gorges, Allgemeinmediziner und bei Médecins du monde aktiv. Sowohl in der Abrigado-Fixerstuff in Bonneweg als auch in der Wanteraktioun in Findel würden Personen mit Symptomen gestestet. Es bestünden Konventionen mit Spitälern, bei Bedarf stationäre Behandlung zu geben. Wer keine Krankenversicherung hat, wird behandelt wie jeder CNS-Versicherte; das Gesundheitsministerium habe zugesagt, alle Kosten zu tragen. Noch nicht abschließend geklärt sei die Frage, wie die sozial besonders Fragilen dem Gebot nachkommen sollen „Bleift doheem!“. Das Abrigado fährt zurzeit einen ausgesprochen reduzierten Dienst. Die Ausgabe von sauberen Spritzen, Tee und Kaffee erfolgt durch ein Fenster. In den Drogen-Konsumraum dürfen nur drei Personen gleichzeitig. Damit nicht nachts 42 Leute im Abridago schlafen, werde nach einer Lösung gesucht, so Gorges. Eine für tagsüber müsste eigentlich ebenfalls her: Noch campieren die im Abridado Betreuten vor dem Gebäude.

Ebenfalls im Fluss sind die Dinge bei der Wanteraktioun. Unter normalen Umständen darf, wer dort übernachtet, sich in der Unterkunft in Findel zwischen 8.30 Uhr und 19.30 Uhr nicht aufhalten. Das gilt auch jetzt, versucht werde aber, die Obdachlosen möglichst in Tages-Strukturen zu betreuen, wie im Café Contact, der Stëmm vun der Strooss oder dem Tagesfoyer der Wanteraktioun in Bonneweg, erklärt die Sprecherin des Familienministeriums, Stéphanie Goerens. Dort werde über die Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen gewacht. „Taucht ein Verdachtsfall auf, wird er an die Maison médicale verwiesen. Fällt dort der Test positiv aus, wird die betreffende Person in einer Extra-Unterkunft isoliert.“ Wahr ist aber auch: Obdachlose meiden oft soziale Kontakte und feste Strukturen. Nicht selten haben sie psychische Probleme. Sie zwingen, irgendwo zu bleiben, kann auch keine der Polizeistreifen, die nun die Einhaltung der Regeln überwachen.

So stellt Luxemburg sich auf das Schlimmste ein. Schlimm wäre nicht nur, wenn es so viele Fälle gibt, dass sie die Versorgungkapazitäten sprengen, selbst die, die nun als Notbehelfe in der Planung sind: die Nutzung des Rahabilitationszentrums in Colpach und des Kurkomplexes in Mondorf und vielleicht gar einer Messehalle auf dem Kirchberg; man kann ja nie wissen. Schlimm wäre auch, wenn eines der Nachbarländer sein Grenzpendler-Gesundheitspersonal für sich beschlagnahmt. Zwar betonte Premier Bettel am Mittwochabend erneut, aus Paris, Brüssel und Berlin Garantien erhalten zu haben, dass das nicht geschehen wird. Hundertprozentig sicher aber kann das nicht sein.

Und noch eine Unbekannte gibt es: Grenzpendler können auch Patienten werden, in Luxemburg um Tests nachsuchen, aber auch hier hospitalisiert werden müssen. Das wäre ganz normal, immerhin sind sie CNS-versichert, und es wäre umso wahrscheinlicher, je mehr die Versorgung in den Nachbarregionen unter Druck gerät. So eine Solidarleistung innerhalb der Großregion aber würde Luxemburg sehr wahrscheinlich überfordern: Krankenhausinfrastrukturen wurden hierzulande noch nie nach dem Bedarf der Population assurée geplant, die fast 900 000 Personen umfasst, sondern nach dem der Population résidente. „Bleift doheem!“ erhält dadurch eine zusätzliche Dimension. Zum Glück zeigt die Erfahrung Chinas, was drakonische Maßnahmen bewirken können: Am Mittwoch verzeichnete das Land, in dem im Dezember alles begann, keinen einzigen neuen Fall aus „lokaler Übertragung“, sondern lediglich vier „importierte“.

Peter Feist
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