Ein dynamisches Instrument

Portfolio, das Lerntagebuch

d'Lëtzebuerger Land vom 18.09.2008

Es ist der Shooting-Star unter den Unterrichtsmethoden, immer mehr Lehrer greifen darauf zurück: das Portfolio. Ursprünglich eine Künstlermappe, in denen italienische Malern und Architekten seit der frühen Neuzeit ihre besten Arbeiten sammelten, um sie potenziellen Auftraggebern zeigen zu können, erlebte das Portfolio in den 1980-er Jahren eine Renaissance. Als US-amerikanische Schulen aufgrund der hohen Abbrecherquoten nach Alternativen zu den herkömmlichen Tests und Noten suchten, überarbeiteten sie das Instrument nach pädagogischen Aspekten; damals entstand eine Bewegung so genannter portfolio schools, deren Ruf als Reformschulen sich bis heute hält. 

Auch in Luxemburg erfreut sich das Portfolio wachsender Beliebtheit. In immer mehr Klassensälen stehen die bunten Ordner, Mappen oder Hefte, in denen Jungen und Mädchen ihre schönsten Zeichnungen, ihre lustigsten Aufsätze oder besten Referate abheften. Das Alter spielt dabei keine Rolle: In Tetingen arbeiten Kinder des Précoce damit, aber auch in der Brideler Primärschule oder im Neie Lycée kommen Portfolios zum Einsatz. Das Lycée classique in Diekirch entwickelt derzeit ein Sprachenportfolio. Weil keines wie das andere ist – es gleicht ja auch kein Kind dem anderen –, gilt es vielen als das pädagogische Instrument, das sich am besten für den neuerdings auch von der Politik gefordertem individualisierten Unterricht eignet.

„Ich habe das Portfolio gemacht, damit nicht nur ich, sondern auch meine Eltern sehen, was ich für Fortschritte gemacht habe“, erklärt ein Junge mit schwarzer Mütze den Sinn des wuchtigen DinA4-Ordners, der vor ihm liegt. Seine Klasse, die Brideler Teamteaching-Klasse SAM, arbeitet seit drei Jahren mit dem Instrument und hat nun einen kleinen Film dazu gedreht, in denen die Schüler die Portfolio-Methode vorstellen. Dabei geht es um mehr als nur eine Lose-Blatt-Sammlung der schönsten Erinnerungsstücke aus der Schulzeit. Was die Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich vom Deutschen Jugend­institut in München in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „persönliches Dokument eines reflektierten Lernwegs“ bezeichnet, ist zunächst einmal eine Sammlung ganz verschiedener Arbeiten und Aufgaben: Indem der Schüler selbst aussucht, was er (oder sie) in das Portfolio hineinlegt, wird er, so ist jedenfalls das Ziel, zum Gestalter und Dokumentar seines eigenen Lernwegs. Im optimalen Fall erkennt er Schwächen und Stärken und kann im Lauf der Zeit anhand der abgehefteten Arbeiten sehen,wie er sich wo weiter entwickelt hat. 

Diese Reflexion des eigenen Lernprozesses geschieht freilich nicht un­gesteuert. Die Brideler Teamteaching-Klasse arbeitet mit so genannten Kompetenzblättern, auf denen die Schüler ankreuzen, wie sie beispielsweise ihre Fähigkeit zur Teamarbeit oder zur Recherche einschätzten. „Das Portfolio gehört in erster Linie dem Kind“, erklärt Melanie Noesen von der Uni Luxemburg. Die Sonderpädagogin ist Mitarbeiterin des Portfolio-Forschungsprojektes Portinno der Uni Luxemburg und Mitbegründerin von Eis Schoul. Die Labor-Grundschule, die erstmals zu dieser Rentrée ihre Türen öffnet, wird auf klassische Noten verzichten und will an ihrer Stelle das Portfolio benutzen, um Entwicklungsstand und Potenziale eines Schülers zu beschreiben. „Das Portfolio kann wie ein Skalpell extrem präzise Lerndiagnosen liefern“, meint Noesen.

Ganz ohne Widersprüche ist diese Doppelfunktion aber nicht: Wenn das Portfolio auch als „diagnostisches Instrument“ für Lehrkräfte und Eltern über Entwicklungsschwächen ei­nes Kindes Auskunft geben soll, wie viel Schülerautonomie ist dann wirklich möglich? Zumal Eltern oft dazu neigen, statt Lernfortschritte zu sehen, wie gebannt auf Rechtschreibung und Grammatik zu starren. Wenn das Portfolio, wie im Neie Lycée, gar als Bewertungsgrundlage einer externen Jury für die spätere Orientierung genommen wird, wie groß ist dann der elterliche Druck – und der von Lehrern! – der Jugendliche möge doch bitte eine möglichst einwandfreie Mappe zu präsentieren, und wie frei ist dieser noch, auch seine Schwächen preiszugeben? Die alten Normen der Leistungsmessung verlernen sich nicht so schnell.

Es gehe nicht um Selbstregulation, sondern um Selbstbestimmung, betont Michelle Brendel, Mitarbeiterin beim Portinno-Projekt und räumt ein, dass das ein schwieriger Balanceakt sei. Gemeinsam mit anderen Forschern, aber auch mit Leuten aus der Praxis diskutiert die Psychologin Spagate und Dilemmata wie diese, denen Pädagogen täglich in der Klasse begegnen. „Im Idealfall haben beide etwas davon: der Lehrer, weil er die Entwicklung seines Schülers besser nachvollziehen kann, und der Schüler, weil er einen tieferen Einblick in seine Arbeitsweisen, seine Fortschritte bekommt“, so Brendel. 

Ohnehin ist das Portfolio ein dynamisches Instrument mit vielen Einsatzmöglichkeiten: Nicht nur, dass es unterschiedliche Typen von Portfolios gibt – für Einzelschüler, für Gruppenarbeit, zur Leistungsbewertung, zur Selbstevaluation, zum Elterngespräch. So manches Portfolio ändert mit der wachsenden Erfahrung der Lehrer seinen Schwerpunk­te beziehungsweise seine Funktionsweise. Manche lassen es die Jugendliche „ne­benher“ ausfüllen, andere haben regelrechte Portfolio-Stunden, in denen sich die Schüler gegenseitig über ihre Portfolios Feedback geben. Es kommen „Kompetenzzettel“ dabei und „Stimmungsbarometer“, in denen die Schüler einschätzen müssen, wie sie sich mit einer Aufgabe gefühlt haben. „Wir haben das Portfolio im Laufe der Zeit gestrafft und verfeinert“, beschreibt der Brideler Grundschullehrer Marc Bodson den Lernprozess, den er und seine Kolleginnen mit dem Instrument gemacht haben. Am Anfang ist das Portfolio oft mit größerem Zeitaufwand und Mehrarbeit verbunden.

Mittlerweile ist man auch im Ministerium auf die Portfolio-Methode aufmerksam geworden und bietet verstärkt Fortbildungen dazu an. Sogar als alternative Bewertungsmethode in der Grundschule ist das Portfolio im Gespräch. Neben Eis Schoul soll das Instrument auch an den Écoles en mouvement (dort ergänzend zum herkömmlichen Zeugnis) getestet werden; schon jetzt tauschen sich Pädagogen und Forscher in einem Netzwerk über ihre Erfahrungen aus. Bis das Portfolio flächendeckend zum Einsatz kommt oder gar klassische Noten ablöst, werden aber noch Jahre vergehen – wenn es überhaupt je so weit kommt: An den amerikanischen Portfolio-Schulen muss ein Schüler sechs Mappen, pro Hauptfach eine, anlegen, mit denen er sich dann zur Abschlussprüfung anmeldet. Vor Gericht auf ein College einklagen, kann er sich mit seinem Abschluss aber nicht. Nachdem ein Gericht 2002 mehreren Portfolio-Schulen die Lizenz zur alternativen Leistungsbewertung entzogen hatte, kämpfen diese noch immer um volle Anerkennung. 

Ines Kurschat
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