Die kleine Zeitzeugin

Mama und Kevin allein zuhaus

d'Lëtzebuerger Land vom 27.03.2020

In den ersten Tagen, in denen ein Großteil der Menschheit zum Chillen verdonnert wurde, fanden viele vieles erstmal gar nicht so übel. Der Himmel, für den sie plötzlich Zeit fanden, erwies sich als blau, wie frisch aus der Wäscherei, wie Enid Blyton einst in einem „Geheimnis um ...“ so schön frisch schrieb. Nichts von Menschen Ausgehecktes flog herum, nur die beliebten Vögel, Drohnen wurden noch nicht gesichtet. Viel Natur wurde gepostet und Idyllisches aus den vier Wänden. Oft mit Rotwein.

Die Durchhalteparolen schienen beinahe überflüssig. Wo alle plötzlich zu sich selbst zu finden oder auf einem vielversprechenden Weg dorthin zu sein schienen. Und nicht mal Amok angesichts dessen liefen. Und wenn, dann lustwandelten sie mal im Nachbarhain.

Vielleicht gibt es einen Garten mit Zen-Steinen, da kommt man auf andere Gedanken, bestenfalls auf gar keine. Soo schlimm ist es auch nicht, in der Frühlingssonne mit einem natürlich guten Buch zu liegen. Sie sind nicht von allen guten Geistern verlassen, ein paar leben gar mit ihnen. Und bevor man sich an die Gurgel geht oder jemand anderem, lädt man kurz mal im eigenen Zimmer die Aura auf.

Familien entdecken sich selbst, na endlich! Sie üben sich in Gelassenheit, auch mal mit den Kindern backen, hat man ja sonst keine Zeit dafür. Kreativ sein. Joggen gehen, mit den Kindern radeln, den Kindern die Schönheit einer auf-, einer ausbrechenden Blüte zu zeigen. Vielleicht gar vor der Tür.

Wer aber in einer Schuhschachtel eingesperrt ist mit allzu nahe Stehenden, Sitzenden, Herumhängenden, ist im verschärften Vollzug. Wer wundert sich darüber, dass junge Menschen aus den Vororten der europäischen Städte geringe Lust verspüren, sich nach à la maison zu verdrücken? Verschärfter Vollzug für Frauen bedeutet der Terrortyp, der plötzlich nonstop am Krisenherd herumlungert.

Selbst die Fähigkeit, die kleinen Freuden des Alltags zu genießen, Offenheit gegenüber einfacher Schönheit, ist ein Luxus. Viele haben das nicht gelernt. Sie haben das Unnütze nicht gelernt, das Schauen, das Gehen, das Staunen. Während die Kinder der Freiberufler_innen, deren Schulkarriere durch Home Schooling wohl kaum bedroht ist, in den wohlhabenden Bezirken in der noch nicht abgesperrten Parkanlage herumtollen, sind die Grasflächen großstädtischer Sozialbauten verwaist, nur Hundi traut sich da rein.

Im verschärften Vollzug sind auch die, die sich ihr Quartier exklusiv mit den Gespenstern in ihrem Kopf teilen. Tag für Tag driften sie mehr ab in eine fremde Welt, für die es gerade kein Korrektiv mehr gibt, nichts Menschenverständliches.

Die Alten, die ihrer Einsamkeit nicht mehr entrinnen können in ein Einkaufszentrum, in dem sie unter einer Plastikpalme dem Treiben rundherum zuschauen. Dem Leben. Sie haben noch nie geskypet, sie haben sich bisher mit herkömmlichen menschlichen Kontakten begnügt, so spärlich die auch waren. Allein sitzen sie vor Bildern, auf denen ihresgleichen in Lastern entsorgt wird. Manchmal wird Mut gemacht, indem darauf hingewiesen wird, dass doch vorwiegend ihresgleichen die Zielgruppe sei.

Dann die, die gerade ein Haufen Kinder umtobt. Vielleicht tobt auch nur ein Kind. Sie sind zu eins mit einem Kind. Man nennt sie alleinerziehend. Mama und Kevin oder Mama und Sophie Leonore allein zuhaus! Sorry, dass ich konventionell Mama schreibe, die Papas sind derart unterrepräsentiert, dass sie sich einfach mitgemeint fühlen dürfen. Isolationshaft mit zweijähriger Terroristin. Einem vierzehnjährigen Randalierer. Einer, Schluchz!, frisch Verliebten. Einem grübelnden Schulkind: Müssen alle sterben? Oder nur Oma? Weil ich ihr einen Kuss gab letztes Mal? Oder gleich dem ganzen Sortiment.

Alleinerziehende residieren meist nicht in Villen, in denen sie auf der Terrasse ein bisschen Yoga mit Kids praktizieren, weil, Wahnsinn!, auch noch die Yogalehrerin ausgefallen ist. Meist ist der Spielraum sehr eingeschränkt, auch der auf dem Konto.

Unter der Herrinnenschaft von Corona wird der Blick schärfer. Auf das, was man im täglichen Tohuwabohu nicht sieht, nicht sehen will. Auf das, was in unserer Gesellschaft wirklich ist, und auf das, was wirklich fehlt.

Michèle Thoma
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