Deutschland nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen

Der Souverän

d'Lëtzebuerger Land du 24.11.2017

Neuwahlen. Dies scheint das Gebot des Zeitgeists in Berlin zu sein. Einige sprechen hinter vorgehaltener Hand darüber, andere fordern sie offen und laut, wieder andere küren sich bereits zur Kanzlerkandidatin. Sehr deutlich kommt diese Forderung allerdings von Politikern, die sich bisher einer Regierungsbildung verweigern. Jamaika-Aussteiger Christian Lindner hält sie für „unproblematisch“, Linke und auch die AfD können es kaum erwarten. Sogar ein Termin für die Neuwahlen ist schon genannt: Am 22. April soll der Souverän in Deutschland wieder zur Wahlurne schreiten, um der politischen Elite endlich ein Ergebnis zu liefern, das ihr passt. Oder dann passend gemacht wird, denn sollte sich die politische Großwetterlage in Deutschland bis dahin nicht grundlegend ändern, muss schon viel erklärt werden müssen, warum das Wahlergebnis im April – nach derzeitigen Prognosen mit kaum wahrnehmbaren Veränderungen – dann eine schwarz-rote oder schwarz-gelb-grüne Koalition ermöglicht.

Es ist keine Staatskrise, in die Deutschland derzeit taumelt, es ist auch keine Krise der Demokratie, sondern einzig und allein ein Politikversagen, was zu dieser nur scheinbar ausweglosen Situation geführt hat. Eine allparteiliche Koalition der Verantwortungslosigkeit, die sich einig darin ist, das Wahlergebnis von Ende September zu dramatisieren. Künstlich zu dramatisieren. Die unverhohlene Forderung nach Neuwahlen ist schlichtweg ein Zeichen politischer Ignoranz, die die Verantwortung für eine nur scheinbar unauflösbare Lage von kompromissunfähigen Politikern auf die Wähler abschiebt. Die Botschaft an den Souverän ist eindeutig: Jetzt wird so lange gewählt, bis es uns endlich genehm ist.

Das Scheitern der Jamaika-Sondierung war ein Lehrstück an egoistischem Machtstreben. Zunächst ließen die Verantwortlichen drei Wochen ins Land streichen, bis die Landtagswahl in Niedersachsen gehalten war, dann galt es die Wahlen in Bayern im Blick zu halten, um mögliche Wählerinnen und Wähler in Weiden in der Oberpfalz und Umgebung nicht zu verprellen. Und um alte Männer an der Macht zu halten. Es brauchte jedoch Christian Lindner, Parteichef der wiederauferstandenen Liberalen mit stark rechtspopulistischen Bezügen, und dessen persönliche Agenda sowie ein simples „Auf Wiedersehen“ um ein mögliches Jamaika-Bündnis in Berlin schließlich scheitern zu lassen.

Wer Lindner kennt, weiß, dass er den Wiedersehenswunsch durchaus ernst meint: Lindner arbeitet auf seine Wiederkehr hin, dann jedoch nicht als Stellvertreter. Wie er es schon einmal in seiner politischen Karriere tat: Im Dezember 2011 war er Generalsekretär der Freien Demokratischen Partei. In dieser Zeit war der Abstieg der Liberalen bereits abzusehen. Selbst für Christian Lindner. Er wusste auch, dass er damals die Kraft und die Kompetenz gehabt hätte, diesen Abstieg abzuwenden. Zum Wohle der Partei, die schließlich 2013 aus dem Bundestag gewählt wurde. Doch schon damals ist es Lindner nicht um seine FDP gegangen. Der Generalsekretär hat seiner politischen Heimat in ihrer schwersten Stunde den Dienst versagt, sie im Stich gelassen, sagte „Auf Wiedersehen“, um später selbst im Mittelpunkt einer rundum erneuerten Partei zu stehen, die einzig und alleine ihn als politische Botschaft hat. Genau das ist sein Inhalt, seine Mission. Seine Vision: Christian Lindner. Er allein. Am vergangenen Sonntag hat er diese Blaupause wiederholt: Wieder hätte er in einer schwierigen politischen Lage einen Beitrag der Lösung sein können – wenngleich es nicht um seine Partei ging, sondern um Deutschland und um Europa. Doch Lindner ging und geht es nicht um Land und Europäische Union, sondern wieder einmal nur um sich selbst. Das ist das wirklich Dramatische, Verheerende an der Entscheidung der Freien Demokraten: Ohne ersichtlichen Grund, aber mit wohl inszenierter Spontanität haben sie ein mögliches Regierungsbündnis platzen lassen.

Es zeigt auch, wie weit sich die Liberalen von ihren eigenen Idealen entfernt haben. Viele Jahrzehnte trug die Partei in wechselnden Bündnissen dazu bei, dass Deutschland wieder seinen Platz gefunden hat: in einem Staatenbündnis und inmitten eines Kontinents mit einer Politik, die auf – europäische – Integration setzte und stets auch das Augenmerk auf die Europäische Union hatte. „Jeder FDP-Vorsitzende vor Lindner hatte verstanden, dass der Wert der Demokratie nicht im Egoshooting des Einzeln liegt“, kommentierte etwa Lutz Maroldt, Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel, „sondern, ganz im Gegenteil, im Ringen um den Kompromiss, im Kampf um den Konsens, den Ausgleich der Partikularinteressen.“ Dafür seien die Liberalen oft beschimpft oder gar verlacht worden. Doch am vergangenen Sonntag habe der FDP-Vorsitzende Lindner diesen Grundsatz deutscher Politik, so Maroldt weiter, „über den Haufen geworfen. Mal eben so.“

Wofür eigentlich? Für ein Wahlprogramm bestehend aus zehn diffusen Trendwenden, schwarz-weißen Fotografien von Herrn Lindner und einem Wahlkampfvideo, in dem er sich bis auf das letzte Hemd auszog? Mit all dem konnten die Liberalen gerade einmal zehn Prozent der Wähler überzeugen. Mehr nicht. Mit dem Scheitern der Jamaika-Sondierung machte die FDP deutlich, dass sie sich nicht um die Zukunft des Landes schert, sondern einzig ihre eigenen Forderungen in den Mittelpunkt stellt, und die von einem Mann geleitet wird, der ebenfalls nur diesen einen Platz für sich akzeptieren kann.

Alternativen zu Neuwahlen sind einerseits eine Minderheitsregierung, andererseits die Fortsetzung der Großen Koalition. Diese ist – im Gegensatz zur verbreiteten Meinung der Sozialdemokraten – nicht abgewählt worden, denn dann wäre ein Regierungsbündnis von CDU und CSU mit der SPD nicht mehr möglich. Sie ist allenfalls abgestraft worden. Was vielleicht auch weniger an der Regierungspolitik lag, denn am konfusen Wahlkampf der betreffenden Parteien.

Eine Minderheitsregierung wird bislang mit dem absurden Argument abgelehnt, sie würde „nicht zu Deutschland passen“ – gerade so, als ob die Unfähigkeit aus fünf von sechs im Bundestag vertretenen Fraktionen eine Regierung zu bilden, zu Deutschland passen würde. Es wäre ungewohnt in der parlamentarischen Geschichte Deutschlands und verpflichtete die kommende Bundeskanzlerin oder den kommenden Kanzler zu überparteilichen Mehrheiten. Der Bundestag würde demnach an Bedeutung gewinnen und damit auch der Souverän. Eine Minderheitsregierung wäre jedenfalls eine bessere Regierung, denn eine Koalition, in der der eigene Vorteil zum Maß allen Regierens erhoben wird.

Martin Theobald
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