Europa

Brüsseler Spitzen

d'Lëtzebuerger Land vom 28.06.2019

Da ist Europa ohne Not in Nöten. Es geht um Posten um Personen, um Nationen und Fraktionen. All das will nach der Europawahl von Ende Mai verteilt werden. Das Gezerre um die oberste Führungsebene der Europäischen Union bringt derzeit eine Grundsatzfrage auf die Tagesordnung: Wer hat das Sagen bei der Suche nach dem nächsten Kommissionspräsidenten, die Staats- und Regierungschefs der einzelnen Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat oder das Europaparlament? Könnten sich in diesem Poker um den Chefposten die Parlamentarierinnen und Parlamentarier durchsetzen, dann hätte dies weitreichende Folgen: Für die Wähler würden Personalentscheidungen transparenter und womöglich bekäme das Parlament mehr Einfluss auf die Arbeit der EU-Kommission. Doch dies steht im Konjunktiv.

Viel Zeit sich in Gedankenspielen zu ergehen bleibt nicht. Wenn am Dienstag nächster Woche das Europaparlament erstmals zusammentritt, muss ein Präsident gewählt werden. Damit hängen weitere Personalentscheidungen zusammen: Chefin oder Chef des Parlaments, der Europäischen Zentralbank und der europäischen Außenpolitik. Das muss alles wohl überlegt sein, denn es gilt zwischen den Ansprüchen, Forderungen und Wünschen der Parlamentsfraktionen, der Staaten und dem Geschlecht einen Kompromiss zu finden, den alle tragen können. Genau dieser Kompromiss wird zur Machtfrage zwischen Parlament und Europäischen Rat, also dem Gremium der Mitgliedstaaten das früher in Hinterzimmerpolitik die Präsidentschaft auskungelte. Nun ist da das Europaparlament, das bei der Europawahl 2014 aus einer Passage des Lissabonner Vertrags das sogenannte Spitzenkandidaten-Modell entwickelte. Dies besagt, dass nur eine Politikerin oder ein Politiker, der vor den Europawahlen seine Kandidatur für den Spitzenposten erklärt hat, überhaupt erst zum Kommissionspräsidenten gewählt werden kann. In Betrachtung des Wahlergebnisses muss nun der Rat den relevanten politischen Kräften im Parlament einen Vorschlag machen, der dann vom Parlament mit Mehrheit gewählt werden muss.

Die nationalen Regierungen in Paris und Madrid haben im Rat einen Pakt aus elf Mitgliedsstaaten geschmiedet, die keinen der drei Spitzenkandidaten der Parteienfamilien unterstützen möchten, weder den Konservativen Manfred Weber, dessen EVP-Fraktion stärkste Kraft im Europaparlament geworden ist, noch die Liberale Margrethe Vestager noch den Sozialisten Frans Timmermans. Dieser Nichtunterstützungspakt wird als Affront des französischen Präsidenten Emanuel Macron gegen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gewertet, oder als französische Retourkutsche dafür, dass Berlin die Vorschläge aus Paris zur Weiterentwicklung der EU nicht oder zumindest unzureichend unterstützt hat. Das Verhältnis zwischen Macron und Merkel soll gestört sein. Dabei kann es Fortschritte für Europa nur geben, wenn Deutschland und Frankreich eng zusammenarbeiten und gemeinsam agieren. Derzeit sind die Streitpunkte größer als die Gemeinsamkeiten – etwa beim Rüstungsexport, bei Haushaltsfragen und beim Klimaschutz. Die Ablehnung des Spitzenkandidatenkonzepts begründet Paris damit, dass die Spitzenkandidaten nicht europaweit angetreten seien. So sei Weber beispielsweise nur in Deutschland wählbar gewesen. Macron hätte lieber transnationale Listen gehabt. Zudem macht Macron keinen Hehl daraus, dass er Weber schlichtweg für ungeeignet hält, da er keinerlei Erfahrung als Regierungschef habe. Es geht dem französischen Präsidenten wohl auch darum, das traditionelle System der Parteienfamilien im EU-Parlament aufzumischen.

Doch innenpolitisch ist auch entscheiden, ob es einer nationalen Regierung gelingt, eine Landsfrau oder einen Landsmann zum Präsidenten der Kommission küren zu lassen. Macron setzt auf Michel Barnier, Chefunterhändler bei den Brexit-Verhandlungen. Doch ihn wird Berlin kaum wählen, da er als ausgemachter Vertreter einer zentralistischen, staatsorientierten Wirtschaftspolitik nach französischem Muster gilt. So geht die Suche weiter. Ein deutsch-französischer Kompromiss könnte so aussehen, dass Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Kommissionspräsidentin wird, während Jens Weidmann, Boss der Bundesbank, an die Spitze der Europäischen Zentralbank aufrückt.

Doch das sind letztendlich Personalentscheidungen, wenn es um die eigentliche Frage geht, welche Institution nun das entscheidende Wort bei der Suche nach dem Präsidenten der EU-Kommission hat: der Rat oder das Parlament. Das Spitzenkandidaten-Verfahren ist der Versuch, Europawahlen interessanter zu machen und auch Transparenz für die Postenverteilung zu schaffen oder Mitbestimmungsrecht zu geben, schließlich die Demokratie in einem Europa zu stärken, das sich immer mehr in Verwaltung verliert. Tatsächlich ist die Wahlbeteiligung gestiegen, denn es waren erste Anflüge von einem europäischen Wahlkampf zu sehen, in dem die Spitzenkandidaten ihre politischen Überzeugungen offenlegen mussten – teilweise bar jeder nationalen Vernunft. Es geht aber auch um die Machtbalance zwischen Rat und Parlament. Denn sollte einer der Spitzenkandidaten der vergangenen Europawahl tatsächlich Chef der Kommission werden und für seine Wahl den anderen Fraktionen im Parlament politische Versprechungen leisten müssen, dann wäre der neue Kommissionspräsident in besonderer Weise dem Europaparlament verpflichtet. Bislang sind alle Präsidenten durch Zustimmung des Rats in den weichen Sessel gehievt worden, was die Verpflichtung ziemlich einseitig machte.

Martin Theobald
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