Drei Wochen vor den Wahlen erzählt Astrid Lulling in ihren Memoiren vom sozialen Aufstieg eines Arbeitermädchens anstelle der Arbeiterklasse

In der Lebensschule der Sozialdemokratie

d'Lëtzebuerger Land vom 28.09.2018

1973, kurz bevor die Gewerkschaften zum Generalstreik aufriefen, der ein Jahr später die CSV in die Opposition treiben sollte, veröffentlichte ­Albert Bousser seine Memoiren, Vom Dorfjungen über zwei Weltkriege zum Minister. Selbstporträt mit Gedankensplittern. Vier Jahre später, unter der DP/LSAP-Koalition, brachte Antoine Krier seine Erinnerungen, 75 Jor Letzeburger Sozialismus. Aus dem Parteileben Luxemburger Arbeiter und Sozialisten, heraus.

Die beiden Gewerkschafter, LSAP-Minister und schließlich SdP-Abgeordneten zeigten, wie das vor dem Krieg begonnene Bemühen der Sozialdemokratie, die Arbeiterschaft zu spalten, die sozialen Kämpfe ins Parlament zu verlagern und die Gewerkschaftsbürokratie an den Staat zu binden, im Kalten Krieg und in den Goldenen Dreißigern wiederholt zu seiner eigenen Karikatur werden konnte. Vergangene Woche, mehr als 40 Jahre später, legte ihre Gewerkschafts-, LSAP- und SdP-Kollegin Astrid Lulling die Fortsetzung vor, wieder eine Mischung aus Selbstbeweihräucherung, Rechtfertigung und Abrechnung: Mein Leben als Frau in der Politik. Autobiographie.

Astrid Lullings Vater war Hüttenarbeiter. Auch ihre drei Brüder arbeiteten auf der Schmelz, der jüngste fiel als Zwangsrekrutierter, der mittlere war Kollaborateur und starb in Deutschland, der älteste brachte es nach dem Krieg zum Vorarbeiter. „Das einzig Positive, das die Nazibesatzung für mich ergab, war, dass die Deutschen beschlossen, die Klassenbesten müssten nach dem sechsten Schuljahr entweder die Hauptschule oder das Lyzeum besuchen“ (S. 13). Das Arbeitermädchen machte 1948 ihr Abitur und musste nicht „Näherin, Modistin, vielleicht Verkäuferin“ werden (S. 13), später studierte sie Volkswirtschaft.

Anders als Albert Bousser und Antoine Krier kam Astrid Lulling durch Zufall zur Arbeiterbewegung. Nachdem sie als Hilfslehrerin und danach in einer Apotheke gearbeitet hatte, machte ein Bekannter sie darauf aufmerksam, dass der Lëtzebuerger Aarbechterverband (LAV), der spätere OGBL, eine Sekretärin mit Abitur suchte, die „korrekt Französisch schreiben“ konnte (S. 19). Dort arbeitete sie für Generalsekretär und Präsident Antoine Krier, der auch LSAP-Abgeordneter und Escher Bürgermeister war.

Antoine Krier, der 1919 und 1921 auf den Parteitagen in Eischen und Differdingen für den Anschluss der Sozialistischen Partei an die Kommunistische Internationale gekämpft hatte, hatte sich zum grimmigen Antikommunisten gewandelt. Astrid Lullings Vater wollte, wie viele Arbeiter, „nach den Kriegserlebnissen nur einer Einheitsgewerkschaft beitreten“ (S. 20), doch Antoine ­Krier wusste, sie zu verhindern – daran sollte auch der OGBL nichts mehr ändern. „Die amerikanischen Gewerkschaften haben uns Geld gegeben, um im Grunde gegen die Kommunisten zu agieren“, erzählte der ehemalige Gewerkschafter und LSAP-Minister Benny Berg vor zwei Jahren in Andy Bauschs Film Streik! Antoine Krier musste ein Leben lang für die Spaltung der Arbeiterschaft kämpfen, um seine Macht zu sichern, um die Freien Gewerkschaften zum Wahlverein der LSAP und die LSAP zum Mehrheitsbeschaffer der CSV zu machen, der Astrid Lulling heute angehört.

Mit ihrem politischen Ziehvater Antoine ­Krier besuchte Astrid Lulling unzählige europäische Gewerkschaftstagungen. „Es ging um den Marschall-Plan, um die Europa-Idee [...], um das Ruhrstatut und schließlich um den Schuman-Plan“ (S. 29). In den Anfangsjahren waren die sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaften stark in den europäischen Integrationsprozess eingebunden. Das war bald nicht mehr nötig. Als Europaabgeordnete hielt Astrid Lulling es deshalb für lohnender, sich der Bienenzucht und dem Weinbau zuzuwenden.

Zur moralischen Korruption der heimischen Sozialdemokratie trug mehr als in den Nachbarländern das „personenbezogene Wahlsystem“ bei (S. 107), das half, die persönlichen Ambitio­nen über die politischen Prinzipien zu stellen, rücksichtslose Einzelkämpfer in eigener Sache hervorzubringen. „Ich verdanke diesem System meine Wiederwahl in der LSAP 1968, in der SdP 1974 und 1979 sowie in der CSV von 1984 bis 2009“ (S. 107). Bei Antoine Krier hatte Astrid Lulling aus nächster Nähe gelernt, für die eigene Karriere den Filz von Gewerkschaft, Partei, Unterorganisationen, Parteipresse, Kommunalpolitik, Parlament und europäischer Bürokratie zu nutzen.

So begann Astrid Lulling 1962, sich eine politische Hausmacht und ein Wählerinnenreservoir als Grundlage für eine eigene politische Kar­riere zu schaffen, als sie Präsidentin des Foyer de la femme wurde: „Alle Mitglieder des Foyer de la Femme waren automatisch Parteimitglied der LSAP; die Präsidentin des Foyer de la Femme war, in Personalunion, auch Präsidentin der Femmes socialistes“ (S. 64). Folgerichtig wurde sie nach der Spaltung der LSAP im Foyer de la femme und in den Femmes socialistes abgewählt. Doch sie war auch Präsidentin der Fédération nationale des femmes luxembourgeoises (FNFL), des Conseil national des femmes du Luxembourg (CNFL), des Comité du travail fémin (CTF), des Centre européen du Conseil international des femmes (Cecif)... Weit mehr als heute war die Verteidigung der Fraueninteressen ein politisches Alleinstellungsmerkmal, besonders in der machistischen Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie.

Das im Buchtitel angekündigte Leben als Frau in der Politik bestand darin, jede verfügbare Frauenorganisation als persönliche Machtbasis zu nutzen und Gift und Galle gegen jede Rivalin zu versprühen: ­Viviane Reding („In den zehn Jahren als Abgeordnete hatte sie sich nicht besonders beliebt gemacht“, S. 199), Erna Hennicot-­Schoepges (wenn sie „eher davon gewusst hätte, wäre es wieder schief gegangen“, S. 138), Nelly Stein („dass er mir zusammen mit der Bürgermeisterin – sie waren ‚e Kapp an en Oasch‘ – das Leben zur Hölle machte“, S. 249), Ria Oomen-Ruitjen („ist eine intime Bekannte von Jean-Claude Juncker“, S. 266), Lydie Schmit („Tatsächlich roch ihre Sonntagskleidung nach Mottengift“, S. 124), Lilly Gansen („Ich hätte auf meine Mutter hören sollen“, S. 69)...

Als Präsidentin des Foyer de la femme und Vertreterin des rechten „Clan Krier“ (S. 86) kam ­Astrid Lulling 1964 auf die Kandidatenliste der LSAP, nach dem Tod von Arbeitsminister Nic Biever rückte sie 1965 ins Parlament nach. Neuer Arbeitsminister wurde Antoine Krier, obwohl ein Teil der Parteileitung Antoine Weiss zum Minister machen wollte, damit Krier im LAV „das Bollwerk gegen ein – auch auf politischer Ebene – mögliches Bündnis von Sozialisten und Kommunisten“ blieb (S. 87).

Doch 1965 ging der sehr geschwächte kommunistische Fräie Lëtzebuerger Aarbechterverband (FLA) im LAV auf, obwohl „Krier auf jeden Fall eine solche Fusion, die ‚Weissen Tunn‘ vorschwebte, und die er auch anstrebte, verhindern wollte“ (S. 54). Im Kampf um die Einheit der Arbeiterbewegung war Astrid Lulling „als engste Mitarbeiterin von Krier zwischen die Fronten“ geraten (S. 54) und hatte Anfang 1963 den LAV verlassen. Sie wurde bis 1971 Gewerkschaftssekretärin der Land- und Lebensmittelarbeiter im Brüsseler Gewerkschaftssekretariat bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und blieb es auch, als sie 1965 nationale und Europaabgeordnete wurde.

In der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung der Sechzigerjahre und der internationalen Entspannung kämpfte der rechte Flügel der LSAP nach der Wahlniederlage 1968 gegen Koalitionen mit den Kommunisten in den Südgemeinden. Schließlich spalteten Präsident Henri ­Cravatte, Antoine ­Krier, Albert Bousser und andere durch die Gründung der Convention sociale-­démocrate, später dann Sozialdemokratische Partei (SdP), die LSAP. „Natürlich gehörte ich zu den Gegnern von kommunalen Koalitionen mit der Kommunistischen Partei, was ja auch die Linie meiner politischen Mutter Lily Krier-Becker und die von ­Antoine Krier war“ (S. 99), beteuert Astrid Lulling. Aber über die immerhin zwei Jahre dauernden Ausein­andersetzungen bis zur Spaltung 1971 und über ihre eigene Rolle dabei schweigt sie sich ebenso vielsagend aus wie über die Ursachen für die Wahlniederlagen und das Ende der SdP 1982.

1974 musste Astrid Lulling ihren Sitz im Europaparlament aufgeben, deshalb habe sie DP-Premier Gaston Thorn „nie verziehen, dass er auf Drängen der LSAP der SdP keinen Sitz mehr zuerkannte“. Sie drohte ihm, dass sie „alles unternehmen würde, damit er nach den nächsten Wahlen 1979 nicht mehr Staatsminister sei“ (S. 121). Als ­Henri ­Cravatte dann der DP/LSAP-Koalition zugesichert habe, mit den Stimmen der SdP die Koali­tion fortsetzen zu können, habe Gaston Thorn Astrid Lulling einen Botschafterposten angeboten, damit sie ihren Parlamentssitz räume. Sie habe abgelehnt und „informierte selbstredend Pierre Werner, Jean Wolter und Jean Spautz“ bei der CSV (S. 131), die ihr einen Posten als Staatssekretärin angeboten hätten, wenn die SdP sich der CSV-Fraktion angliedere. Das schien ihr angemessener, aber die SdP-Kollegen spielen nicht mit, „leider“ (S. 131).

Mit dem Untergang der SdP war für Antoine ­Krier und Albert Bousser die politische Laufbahn und der Marsch nach rechts zu Ende. Nicht so für Astrid Lulling, die unbeirrbar weitermarschierte und 1984 der CSV beitrat, nicht weil sie irgendetwas mit dieser Partei verbunden hätte, sondern um ihr Mandat zu retten. In der CSV genoss die Überläuferin höchste Protektion, selbst als sie 1988 in ihrer Eigenschaft als Schifflinger Bürgermeisterin wegen Einmischung zugunsten einer Baufirma verurteilt worden war.

Die 89-Jährige blickt heute zufrieden auf ein halbes Jahrhundert gnadenlosen Kampfes zum sozia­len Auftstieg nicht der Arbeiterklasse, sondern eines Arbeitermädchens. Im Glanz dieses Kampfes spiegeln sich all die Gewerkschafter und Parteimitglieder, die nach LS@P und Space Mining die Grundsatzerklärung der Sozialdemokratischen Partei von 1971 unterschreiben könnten, ohne es zu merken.

Astrid Lulling, Mein Leben als Frau in der Politik. Autobiographie, Eigenverlag, 2018, 318 S., 19,50 €

Romain Hilgert
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