Die Association des médecins et médecins-dentistes (AMMD) macht Front gegen die geplante Gesundheitsreform. Ein Interview mit AMMD-Generalsekretär Claude Schummer

„Dann bricht das System!“

d'Lëtzebuerger Land vom 02.09.2010

d’Land: Herr Schummer, gibt es schon einen Termin für einen Ärztestreik?

Claude Schummer: Am 22. September findet eine Vollversammlung der AMMD statt. Dort werden wir unseren Mitgliedern die Vorschläge unterbreiten, die der Minister uns am 27. Juli vorgelegt hat. Die gefühlte Temperatur in unserem Verband lässt allerdings darauf schließen, dass es einen ziemlich warmen Herbst geben wird.

Eine erste Reaktion hat der Minister auch schon erhalten.

Unser Verwaltungsrat hat ihm am 24. August unsere Position zu seinem Reform-Vorentwurf mitgeteilt.

Anfang August haben Sie in einem Interview sogar angekündigt, die AMMD-Mitglieder könnten sich „desolidarisieren“. Das klingt nach einer Maßnahme auf Dauer, gestreikt wird vielleicht nur einmal.

Nach Ansicht unseres Verwaltungsrats kämen das Luxemburger Gesundheitswesen mit dieser Reform, falls sie so durchgezogen wird, wie im Vorentwurf steht, auch an einem Endpunkt an. Wir bewegen uns in einem System, das umgekehrt zu dem der Banken ist: Banken dürfen frei arbeiten, neue Produkte entwickeln und Gewinne erzielen. Falls etwas schief läuft, werden sogar staatliche Garantien zur Verfügung gestellt, die das System stützen. Wir dagegen dürfen die Risiken eines freien Berufs tragen, unsere Handlungsfreiheit aber wird durch eine automatische und obligatorische Konvention mit der Gesundheitskasse stark eingeschränkt. Was allerdings bisher noch im Rahmen dieser Konvention unter Partnern verhandelt wurde, soll demnächst über großherzogliche Verordnungen geregelt werden. Der Staat will uns vorschreiben, was wir zu tun haben, und Behandlungsstandards erlassen. Die Haftung aber überlässt er dem einzelnen Arzt.

Solche Standards stehen doch aber für die evidenzbasierte Medizin und den Stand der Wissenschaft. Im Ausland gibt es sie längst.

Rein evidenzbasierte Medizin deckt heute nur rund 30 Prozent des ärztlichen Handelns ab. Die anderen 70 Prozent sind zum großen Teil experienzbasiert – positive Erfahrungen, die aber nie durch eine wissenschaftliche Studie belegt wurden –, zum anderen Teil einfache Patientenwahl. Was dem Stand der Wissenschaft entspricht, muss nicht in jedem Patienten funktionieren. Leitlinien enthalten eine Erfolgswahrscheinlichkeit, aber keine Garantie. Jeder Patient hat individuelle Eigenheiten. Also muss es in seinem Interesse einen Ermessensspielraum für den Arzt geben und der Patient stets eine Wahl haben. Er will kein simpler „Leitlinienbezieher“ sein.

Andererseits ist nicht jeder Arzt wie der andere. Da ist eine Leitlinie doch eine Art Qualitätsgarantie für den Patienten.

Was die AMMD bestimmt nicht ablehnt, sind Programme wie die für das so genannte Disease Management. Das sind Checklisten für häufige Volkskrankheiten. Da wird zum Beispiel vorgeschrieben, dass ein Diabetiker einmal jährlich zum Augenarzt gehen soll, wie oft diese oder jene Laboruntersuchung fällig wäre, und so weiter. Solche Standards können als Empfehlungen die Versorgung verbessern. Problematisch wird es, wenn es nur noch Checklisten und Behandlungswege gibt und weder Arzt noch Patient davon abweichen können. Dann geht der Patient ins Ausland und lässt sich da ohne Zwänge behandeln.

Begegnet er dort nicht ähnlichen Leitlinien, die sich am Stand der Wissenschaft zu orientieren versuchen?

Die Wissenschaft ist nie das Problem. Erleidet ein Patient einen Schaden und dem Arzt wird nachgewiesen, dass er sich nicht an die Regeln der Kunst gehalten hat, dann haftet er. Aber mehr und mehr treten zu wissenschaftlichen Standards ökonomische Aspekte hinzu. In Frankreich hat man die Reférences médicales opposables fallengelassen. Es gibt Gerichtsurteile, die klar sagen: Es mag eine Referenz sein, doch sie entstand aus wirtschaftlichen Erwägungen. Die Ärzte aber seien dem Patienten die bestmögliche Behandlung schuldig, nicht, der Wirtschaftlichkeit ein Opfer zu bringen.

Mars Di Bartolomeo schreibt in seinem Reform-Vorentwurf, Leitlinien sollen in Luxemburg nur Empfehlungen sein, und er lädt den Conseil scientifique ein, sie mit auszuarbeiten. Präsident dieses Conseil sind Sie. Meinen Sie nicht, dass sich im kleinen Kreise im kleinen Lande dafür sorgen lässt, dass es vor allem um Wissenschaft geht?

Leider nein. Zum einen soll nicht der Conseil scientifique die Leitlinien formulieren, sondern eine neu zu gründende Cellule d’expertise médicale. Ihr könnte der Conseil vielleicht zuarbeiten, aber im Grunde würde er abgeschafft, wenn man ihm diese Cellule vorsetzt. Zum anderen werden schon Ansätze unternommen, um Behandlungswege einzurichten. Da werden Versorgungsmonopole an bestimmten Kliniken geschaffen.

Entspricht das nicht der Idee, in den ­Kliniken Kompetenzzentren zu bilden, die auch die AMMD unterstützt?

Ich habe eher den Eindruck, dass hier ziemlich willkürlich festgelegt wird, wo ein Parcours de soins zu beginnen hat.

Wenn die AMMD gegen administrierte Medizin ist, müsste sie dann nicht auch gegen den Médecin-reférent sein? Andererseits heißt es, Sie selbst hätten sich stark für dieses Konzept eingesetzt.

Die AMMD ist nicht gegen den Referenzmediziner. So wie er geplant ist, soll er dem Patienten mit Rat und Tat zur Seite stehten. Wir sind jedoch ganz klar gegen ein Gatekeeper-System. Das muten wir der Allgemeinmedizin nicht zu. Wir haben in Luxemburg zwei Drittel Spezialisten und ein Drittel Generalisten; der Patient ist es gewohnt, direkt zum Spezialisten zu gehen. Ich kann mir schwer vorstellen, von heute auf morgen zu sagen: Künftig führt der Weg immer zuerst zum Hausarzt!

Einsparungen wird es damit allerdings keine geben. Eher gehen mehr Patienten erst zum Hausarzt und dann noch zum Spezialisten.

Dass es teurer wird, haben wir dem Minister ganz klar gesagt, und es gibt mehrere Studien, die das belegen. Die Aufgabe des Referenmediziners kann es nicht sein, Kosten zu sparen, sondern die Versorgung der Patienten zu verbessern. Sorgt ein Hausarzt dafür, dass seine Patienten sich bestimmten Vorsorgeuntersuchungen unterziehen, dann steigert das die Kosten, dient aber der Gesundheit der Patienten.

Finden Sie, dass die Patienten verantwortlicher gemacht werden sollten gegenüber den Kosten, die durch ihre Nachfrage entstehen?

Eigenbeteiligungen können ein zweischneidiges Schwert sein. Sie bergen immer die Gefahr, dass ein Patient eine Leistung, die er nötig hätte, nicht in Anspruch nimmt. Das kann indirekt wiederum Kosten verursachen. Andererseits ist es kontraproduktiv, wenn eine Leistung gar nichts kostet und voll im Drittzahlersystem übernommen wird. Dann kann die Nachfrage aus dem Ruder laufen. Deshalb finden wir, dass es auf allen Leistungen Beteiligungen geben sollte, und wenn es nur symbolische sind. Also auch auf Laboruntersuchungen und, warum nicht, bei der Krankschreibung.

Der Minister will bei allen Dienstleistern im Schnitt fünf Prozent einsparen, und er sagt, es habe sich auch in der Ärzteschaft herumgesprochen, dass in schlechten Zeiten die Honorare nicht steigen dürften. Ist die AMMD damit einverstanden?

Damit sind zwei Fragen berührt. Zum einen steht dieses Jahr die turnusgemäße Verhandlung unserer Tarife an; da wünscht der Minister sich eine Nullrunde. Zum anderen will er unsere globale Honorarmasse um 25 Millionen Euro kürzen. Das wird mit uns so nicht gehen. Die Luxemburger Ärzte und Zahnärzte sind obligatorisch mit der kranken Kasse CNS konventioniert und in ihren Tarifen nach oben gedeckelt. Wenn sich die Regierung aus der globalen Honorarmasse bedient, um Defizite auszugleichen, dann werden wir – und das gebe ich Ihnen schriftlich – diesem System den Todesstoß verabreichen. Dann werden der Minister und die Regierung ein anderes Problem haben, das ungleich schwerer zu lösen sein wird, als Klassenkampf mit anderen Mitteln auf Kosten der freien Berufe zu machen. Was die Verhandlungen zur Gebührenordnung angeht, haben wir dem Minister signalisiert, dass wir uns als verantwortliche Partner zeigen, wenn der gesetzliche Rahmen stimmt. Aber dann muss jeder eine Nullrunde drehen, nicht nur die liberalen Berufe.

Wie kann der Deal denn aussehen?

Ich will dem nicht vorgreifen. Aber wir sind gut vorbereitet und wissen, wo wir das System angreifen können.

Über die Konventionierung?

Ja!

Sie bringt aber allen freiberuflichen Ärzten Einkommenssicherheit, auch denen, die an freien Preisen nicht so viel verdienen würden.

Ich bin mir da gar nicht mehr so ­sicher. Die Praxis im EU-Ausland ­beweist das Gegenteil.

Warum hat die AMMD die Konventionierung dann nicht schon längst zu Fall gebracht?

Mit der Krankenkassenreform von 1992 bekamen wir gesagt: Ihr habt das Versorgungsmonopol. Dann kam das Decker-Kohll-Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das den Patienten den Weg ins Ausland ebnete, und das Monopol war weg. 1999 versuchte die Regierung, uns zum ersten Mal zu einer „freiwilligen“ Spende aus unserer gedeckelten Honorarmasse zu zwingen, um ein von ihr verschuldetes Defizit zu tilgen. Das war für die AMMD das Signal, die Konventionierung politisch anzugreifen. Sie fällt aber nicht, weil ein Politiker das beschließt, sondern weil sie juristisch nicht haltbar ist.

Und warum hat die AMMD diese Chance nicht schon genutzt, wenn danach freie Preise winken?

Ein kompletter Umsturz wäre mit Kollateralschäden verbunden.

Der Ärzteverband hatte Skrupel, die jetzt keine Rolle mehr spielen?

Für uns steht fest: Wir sind am Ende der Reformierbarkeit dieses Systems angekommen. Die Daumenschrauben, die man uns künftig zumutet, überwiegen bei Weitem gegenüber den Vorteilen des Luxemburger ­Gesundheitsmodells. Hinzu kommt, dass der Minister anregt, den Beitragsplafond abzuschaffen. Wenn es dazu kommt, stünde auch die allgemeine Versicherungspflicht bei der Einheitskasse CNS in Frage. Denn es gibt nicht wenige Leute in Luxemburg, die vorrechnen werden, dass sie sich aus den hohen Kassenbei­trägen, die sie dann bezahlen müssen, eine Privatversicherung mit Sieben-Sterne-Versorgung finanzieren könnten, wie sie weder der Leistungskatalog der CNS hergibt, noch die medizinische Infrastruktur hierzulande. Das wäre das Ende der Einheitsversicherung – da fällt es mir nicht schwer zu sagen: Äddi und goodbye Luxemburger Gesundheitsmodell! Dann verhandelt die AMMD nicht mehr nur mit der CNS, sondern auch mit den anderen Versicherern. Dann sind wir im deutschen Modell der Mehrklassenmedizin angekommen. Der deutsche Arzt lebt schon lange nicht mehr von der AOK. Der lebt vom Anteil seiner Privatpatienten. Zehn Prozent der Deutschen sind privat versichert. Hat der Arzt auch zehn Prozent Privatpatienten, geht es ihm gut.

Sie scheinen den Beweis erbringen zu wollen, wie groß der politische Einfluss der Ärzte in Luxemburg ist.

Die AMMD hat 2004 ihr hundertjähriges Bestehen gefeiert. Sie entstand, als es vor über hundert Jahren um Abkommen mit Krankenkassen ging. In hundert Jahren war stets das Geld knapp, Ärzte und Zahnärzte standen immer am Pranger, und und manchmal flogen sogar die Fetzen. Aber es war stets ein System, in dem sich jeder am Ende wieder fand. In dieser Reform hier finden wir uns nicht mehr wieder!

Sie haben gesagt, Sie wollten nicht vorgreifen, wie ein Deal aussehen könnte; aber was will die AMMD?

Die Ärzte und Zahnärzte verlan­gen partnerschaftliche Verhältnisse, keine großherzoglichen Verordnungen. Partnerschaftliche Verhältnisse mit den Ministerien, der Gesundheitskasse, den Spitälern. Dann kann man über vieles reden. Wir verlangen allerdings auch, dass gegenüber der Krankenkassenreform von 1992 in manchen Punkten zurückgerudert wird. Zum Beispiel fordern wir in Zukunft das Prinzip einer paritätischen Vertretung auf allen Ebenen; unter anderem in der Nomenklaturkommission, die über Änderungen an der Gebührenordnung befindet. Ein weiterer Punkt ist das No fault-Prinzip in Haftungsfragen: Klinikärzte sind heutzutage eingebunden in alle möglichen komplexen Zusammenhänge. Also sagen wir: Wenn es kollektive Entscheidungen gibt, muss es auch eine kollektive Haftung geben, die den Patienten aus einem kollektiven Fonds entschädigt. Entscheidet der Arzt individuell etwas und macht einen Fehler, haftet er natürlich weiterhin persönlich. Das No fault-Prinzip ist für uns eine Conditio sine qua non, wenn wir in Zukunft über standardisierte Behandlungswege diskutieren sollen.

Der Minister schreibt, an No fault sei erst zu denken, wenn die medizinische Aktivität umfassend dokumentiert und strikt geregelt ist.

Für uns ist klar: Will man das Belegarztsystem halten, mit liberaler Tätigkeit und individueller Verantwortung gegenüber dem Patienten, und will man gleichzeitig den Belegarzt stärker einbinden in die Ausgestaltung der Klinikmedizin, dann braucht man auch eine kollektive Haftung. Es kann nicht sein, dass der Arzt individuell haften soll für Entscheidungen, die anderswo kollektiv getroffen wurden. Das ist für uns eine klare Vorbedingung für die Einführung von Behandlungsstandards. Es geht hier nicht um einen Machtkampf, sondern um entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft der freiberuflichen Medizin hierzulande.

Eine Einschränkung der Therapiefreiheit und der Wahl des Patienten wäre demnach für die AMMD doch akzeptabel – falls die ärztliche Haftpflicht neu geregelt wird?

Ich denke schon, dass sich auf partnerschaftlichem Wege, wie im Conseil scientifique, dafür sorgen lässt, dass solche Standards wissenschaftlich bestimmt sind. Dass letzten Endes immer der Patient entscheidet, gilt sowieso.

Peter Feist
© 2023 d’Lëtzebuerger Land