Binge watching

Herkulesaufgaben

d'Lëtzebuerger Land vom 12.06.2020

Seitdem Peter Jackson zur Jahrtausendwende mit der Adaption von J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings die Fantasy für den Film massentauglich und sozusagen salonfähig gemacht hat, erfreut sich das Genre einer konstanten Wiederbelebung. Es ist in rezenteren Jahren aber vor allem der unglaubliche Erfolg der HBO-Serie Game of Thrones, der für das Fernsehen neue Maßstäbe setzte. Die Fantasy hat mit dem seriellen Erzählen die für sich adäquate Form gefunden, denn für sie ist mehr noch als für andere Genres das Etablieren der diegetischen Welt von zentraler, ja vitaler Bedeutung. Dem Prozess des world-buildings, der detaillierten Konstruktion dieser Scheinwelten, gilt das besondere Augenmerk: Da wird an mittelalterliche Vorstellungswelten angeknüpft, um einen besonderen Reiz aus der Entfaltung fabelhafter Kreaturen, dem Zeigen exotischer Landschaften, dem Schildern mysteriöser magischer Riten oder Bräuche zu beziehen. Es ist in besonderem Maße ein beschreibendes Genre, es ist die Bedingung sine qua non für das Genre – wer bei diesen Ausführungen nun verwirrt den Kopf schüttelt, der ist für die Fantasy und erst recht für die von Netflix adaptierte Serie The Witcher nicht mehr zu gewinnen.

Basierend auf den literarischen Werken des polnischen Romanautors Andrzej Sapkowski erzählt The Witcher von den Abenteuern des Hexers Geralt von Riva (Henry Cavill), der seinen Platz im Königreich Nilfgard sucht, indem er Monster für Geld tötet. Ein bisschen erinnert er dabei an das Image des Western-Helden, dem Clint Eastwood zur Prominenz verhalf. Das Unsesshafte gehört zu seinem Wesen, er ist ein Reisender, der – der episodischen Struktur der Handlung entsprechend – vor Herkulesaufgaben steht. Henry Cavill spielt diesen grimmigen, wortkargen Hexer mit einer Konzentration auf Ernsthaftigkeit und Dramatik – und damit ist ein weiteres Problem des Fantasy-Genres angeschnitten: Das ihm inhärente Pathos ist zwingend, ohne dieses würde die Fantasy sich ihrer Glaubwürdigkeit berauben und somit sterben. Deshalb kann The Witcher auch kaum mit humorvollen Momenten aufwarten, alles ist da von der drückenden Schwere des Schicksalhaften überlagert.

Entsprechend gibt es in der von Lauren Schmidt Hissrich konzipierten Serie eine gewisse Dramatisierung der Landschaft, mit einer Vorliebe für große, gewaltige Formen. Es treten zunehmend weibliche Charaktere auf, die sich profilieren, dem Helden zur Seite stehen oder gegen ihn intrigieren. Aber es ist doch der Held, dem das Hauptinteresse gilt; und nur sehr selten ist die Kamera von ihm so weit entfernt, dass seine muskulöse Statur den Bildrahmen nicht mehr ausreichend zu füllen vermag. Ferner stellt The Witcher, eine der unmittelbaren Folgen von Game of Thrones, dem Helden nackte weibliche Körper bei, sie sind nicht immer Teil der Handlung, gerne aber Teil des Dekors. Dass die Romanvorlage bereits mehrfach in ein Adventure-Spiel für die Gaming-Welt transformiert wurde, geht auch an der Netflix-Serie nicht spürbar vorbei: Oft verfolgt die Kamera diesen übernatürlichen Helden aus der Rückenansicht, umkreist ihn, und besonders in den aktionsbetonten Momenten wird das Geschehen mit Zeitlupe in die Länge gedehnt. Das schafft für das Auge visuell Berauschendes und setzt die aufwändigen Schwertkampf-Choreografien beeindruckend in Szene.

Die ohnehin schon detailversessene Schilderung der Handlung und ihrer Figuren wird zusätzlich erschwert durch eine komplexe Verschachtelung mehrerer narrativer Ebenen, die mit Rückblenden ineinander gewoben werden – Stringenz und Transparenz gehen dabei beinahe verloren, so sehr verliert die Serie sich fortschreitend im Labyrinth des Übererzählens. Spannend sind nichtsdestotrotz die verdeckt mitgeführten Exkurse in die altzeitliche Mythologie. Hinter Namen wie Nilfgard kann man die germanische Bezeichnung für die Erde, Midgard, erkennen, und auch einzelne Versatzstücke der polnischen Mythologie scheinen durch.

Marc Trappendreher
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