Die kleine Zeitzeugin

In der Zwischenzone

d'Lëtzebuerger Land du 19.06.2020

Und dann war der Krieg vorbei, und alle fielen einander um den Hals und tanzten auf den Straßen. Huch, nein, bloß nicht! Bitte nicht übertreiben und es nicht zu bunt treiben, kopfschütteln die Virolog/innen, wir haben doch gerade ein Benehmen gelernt. Außerdem ist die Kriegsmetapher voll daneben, es war kein Krieg, es gibt nicht mal einen Sieg. Auch wenn wir uns zuprosten ohne zu prusten. Weil wir ja jetzt so viel gelernt haben. Da sind die Virolog/innen mit uns ganz zufrieden. Und jetzt weiter so!

Weil, der Invasor wird uns nicht einfach verlassen, im Gegenteil, er wird heimisch bei uns. In uns. Wir müssen jetzt eben lernen, mit ihm umzugehen. Und einander möglichst elegant zu umgehen.

„Ein Flugzeug!“, schreit jemand himmelwärts wie ein Fünfzigerjahrekind neben der Wäscheleine, auf der die Tide-Wäsche im knallblauen Reklamehimmel flattert. Der Himmel ist bald wieder gestreift.

Zwischendurch wird das beliebte Sündenbockspiel gespielt. Ist der Sündenbock ein Fisch, ein Schuppentier, ein Kind, eine fliegende Maus oder ein Chinese? Das Monster von Loch Kitz? Zwei Frauen in Neuseeland? Es gibt immer neue Varianten dieses Spiels, weil der Verdächtige raffiniert muh-tier-t, immer menschlicher wird, was nicht zur Beruhigung beiträgt. Das Corona-Rätselraten hat immer neue Folgen. Der holde Jüngling Drosten erscheint uns immer wieder. Er prophezeit Wellen.

Manchmal drehen wir uns um, sprungbereit, uns jeden Augenblick wieder in der Intimzone zu verschanzen. Kommt die Welle von hinten? Kommt sie überhaupt? Oder ist sie eine Mär?

Systemerhalter/innen werden von andern Systemerhalter/innen schon mal prophylaktisch durchgeprügelt. Zum Beispiel französisches Pflegepersonal von französischen Polizisten. Damit Erstere keine Starallüren kriegen nach all dem Applaus aus den Logen.

Da, aus einem Schlachthof schwappt eine Blutwelle, gilt die? Oder handelt es sich nur um einen Cluster? So ein Cluster poppt eben auf, mal hier, mal da, heute hier, morgen dort, wie Hannes Wader einst sang. Alles halb so schlimm. Aber auch halb schlimm.

Schwedisches Roulette, nein Danke, sagen die Schwedencoronaskeptiker/innen. Die Schwedencoronafans und die Schwedencoronaskeptiker/innen nennen einander Leugner/innen beziehungsweise Hysteriker/innen. Sie unterstellen einander, neoliberal, menschenverachtend, eiskalt und zynisch zu sein und Alte auf dem Altar der Wirtschaft zu opfern. Beziehungsweise autoritätshörig und menschenverachtend zu sein und Junge zu opfern. Wegen ein paar knickriger Greis/innen, wegen ein paar mickriger Greis/innenjährchen.

Jetzt sind wir eigenverantwortlich, werden wir von den Politiker/innen in eine schreckliche Mündigkeit entlassen. Es wird einer so schrecklich schwedisch zumute, und die Virolog/innen nicken und sagen seltsam losgelöst, sie seien nur Virolog/innen.

Und was, schluckhuch!, dann? Was jetzt? Die Freund/innen einladen? Oder vielleicht höchstens eine, am besten eine Eremitin, auf Abstand, an einem zugigen Ort? In einem Orkan? Wirklich öffentlich, pfuischluckhuch!, verkehren? Während die Aerosole uns ohne Abstand antanzen und sich die Viren schamlos fortpflanzen? In uns womöglich? Und wie sollen Verliebte noch zueinander finden, wenn wir alle das neue Benehmen schon „verinnerlicht“ haben, wie ein Virologe mit Genugtuung bemerkt? Wenn man den talkenden Fernsehmenschen zuhört, die einander darin bestätigen, wie einfach es ist, hygienisch mit Verstand auf Abstand zu urlauben, hat man den Eindruck, die Bevölkerung bestehe exklusiv aus gesetzten Ehepaaren mittleren Alters, die sowieso froh sind, wenn niemand sich dem Gartenzaun nähert.

Corona bei den Edlen, die global von Wichtigkeit sind, sie winken genesen vom Bildschirm. Corona bei den Elenden, die flächendeckend von der Bildoberfläche verschwinden, in schwarzen Löchern. Aber das ist in anderen Ländern, so langsam wird es wieder normal, die Seuchen sind wieder dort, wo sie hingehören.

Stimmt doch gar nicht, lächelt der Knabe im lockigen Haar. Bald ist der Herbst da!

Michèle Thoma
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