Nationale Representativität

Gesellschaftspolitik und ihr Preis

d'Lëtzebuerger Land du 07.11.2002

Der soziale Friede ist bedroht, meldete Arbeitsminister François Biltgen am Dienstag, als er seinen Entwurf zur Reform des Kollektivvertragsgesetzes in der Kammer deponierte. Und dem parlamentarischen Beschäftigungsausschuss somit nahe legte, den lang erwarteten Gesetzentwurf möglichst vor Ende der Legislaturperiode zu stimmen.

Der Minister hat sich ausgerechnet, dass mittlerweile die Erwerbstätigenbevölkerung zu einem Drittel aus Grenzpendlern bestehe, die auch „eine andere soziale Kultur" mitbrächten, welche nicht nur eine Bereicherung, sondern „auch eine Gefahr" sein könnte. Im Sinn hatte Biltgen wohl vor allem die Arbeiter und Angestellten aus Frankreich, wo CGT, CFDT oder FO zwar einen niedrigeren Organisationsgrad aufzuweisen haben, aber längst zu Arbeitskämpfen aufgerufen haben, wenn hier zu Lande OGB-L und LCGB noch zwischen Verhandlungstisch, Vermittler und Schlichtungsamt pendeln, Kommunikees verschicken und Minister um eine Unterredung bitten.

Der seit den Achtzigerjahren versprochene, dann seit Jahren vorbereitete und nun nicht ohne Mühe von CSV und DP im Regierungsrat verabschiedete Gesetzentwurf stellt also nach Auffassung des Arbeitsministers ein Stück „Gesellschaftspolitik" dar. Und als solches muss es natürlich ein hinkender Kompromiss zwischen entgegengesetzten Interessen sein. Zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, zwischen CSV und DP. Aber auch zwischen Unternehmern, denen starke Gewerkschaften und Kollektivverträge Ruhe und Planungssicherheit im Betrieb versprechen, und solchen, denen jede Gemeinsamkeit zwischen den einzelnen Beschäftigten verdächtig ist; zwischen Gewerkschaften, die flächendeckend und branchenübergreifend Sozialpolitik machen möchten, und Vereinen, die bestenfalls in einigen Betrieben etwas Lohnerhöhung aushandeln möchten.

Dass die Reform so lange auf sich warten lässt, ist also nicht bloß die Schuld des Ministers. Deshalb trat er jetzt ein wenig die Flucht nach vorn an, ließ seinen Text noch einmal von der Internationalen Arbeitsorganisationen überprüfen und deponierte ihn ohne große Hoffnung, dass er in der vorliegenden Form auch gestimmt wird. Nun ist es eben an dem parlamentarischen Beschäftigungsausschuss, eine endgültige Version auszuhandeln, das heißt etwa darüber zu feilschen, ob  die nationale Repräsentativität bei 15, 20 oder 25 Prozent der Stimmen bei den Berufskammerwahlen beginnt und die sektorielle bei einer Branche mit fünf, zehn oder 15 Prozent der Beschäftigten.

Ein wenig Gesellschaftspolitik ist der Gesetzentwurf schon durch das große Gewicht, das er im Zeitalter der Deregulierung, Flexibilisierung und Individualisierung weiter auf Kollektivverträge legt. Denn Kollektivverträge sind für viele Beschäftigte der einzige Weg, um über Reallohnerhöhungen oder zusätzliche Urlaubstage an den Produktivitätsgewinnen ihrer Betriebe beteiligt zu werden. Allerdings werden Kollektivverträge meist nur in größeren Unternehmen und traditionsreichen Wirtschaftszweigen ausgehandelt, so dass Zehntausende von Beschäftigten in mittelständischen Unternehmen oder Branchen ohne Gewerkschaftstradition davon ausgeschlossen bleiben und lediglich einen Inflationsausgleich über die automatischen Indexanpassungen erhalten.

Dieses Zweiklassensystem von Erwerbstätigen mit und ohne Kollektivverträgen wird in letzter Zeit dadurch verstärkt, dass immer mehr Beschäftigte von Kollektivverträgen ausgeschlossen werden, indem sie zum Schein als leitende Angestellte, Selbstständige oder als Leiharbeiter verpflichtet werden. Um dem etwas entgegen zu wirken, sieht der Gesetzentwurf vor, dass als leitende Angestellte künftig nur solche gelten, die Entscheidungsbefugnisse haben und deutlich mehr verdienen als die anderen Angestellten. Aber nach Wegen, um den Abschluss von Kollektivverträgen in Branchen zu fördern, die seit Jahrzehnten darauf warten, wurde nicht gesucht.

Doch die Gesellschaftspolitik findet vor allem dadurch statt, dass Rechte und Liberale, die in den Dreißigerjahren erst durch Arbeitskämpfe gezwungen werden mussten, die bloße Existenz von Gewerkschaften überhaupt anzuerkennen, jetzt im Vorfeld der viel gelobten Tarifautonomie über den Gesetzesweg weiter eine bestimmte Form von Gewerkschaften begünstigen wollen. Der Minister beschrieb sie am Dienstag mit den drei Stichworten „Unabhängigkeit, Mächtigkeit und sozialer Dialog". „Etwas Revolutionäres", wie der Minister am Dienstag meinte, ist das nicht, sondern vielmehr in der Tradition des bisherigen Gesetzes, das 1965 auf dem Höhepunkt des Luxemburger Fordismus verabschiedet wurde und Teil einer streng institutionalisierten Sozialpartnerschaft ist, die mit der Stahlkrise Mitte der Siebzigerjahre noch verstärkt wurde. Der Gesetzentwurf sieht sogar erstmals die Möglichkeit einer Art nationaler Kollektivverträge als branchenübergreifende Abmachungen zwischen den Sozialpartnern vor, wie sie auf europäischer Ebene beispielsweise für die Regelung der Telearbeit geplant sind.

An anderer Stelle warnte Biltgen bereits ideologische Zauberlehrlinge, die glauben, die gesetzlich beförderte Zerschlagung der großen Gewerkschaftszentralen nütze der Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts, dass es hier um mehr gehe, als den Versuch von CSV und LSAP, LCGB und OGB-L als Wählerstimmenreservoirs zu schützen. Vielmehr gab er diskret zu bedenken, dass die unter dem Vorwand von Demokratie und Pluralismus versuchte Zersplitterung der Gewerkschaften in Wirklichkeit nur zu vielen kleinen Berufsverbänden führe, die sich gegenseitig mit hysterischen Forderungen an die Unternehmen überböten. Die Erfahrung der regelmäßig vor den Sozialwahlen aufkeimenden Erbschleicher der FEP mit den skurrilen Namen voller Knacklaute scheint ihm Recht zu geben.

Liberale Politiker, die nach ihrem Erfolg bei der CGFP in den 99-er Wahlen der Aleba ebenfalls im Namen von Demokratie und Pluralismus ihr Wort gaben, müssen sich zwar fragen lassen, wieso sie nicht ebenso konsequent für den Gewerkschaftspluralismus im öffentlichen Dienst sind. Aber Biltgens Gesetzentwurf nimmt sogar erstmals ausdrücklich die Beamten des öffentlichen Dienstes mit dem wenig überzeugenden Argument aus, ihre Tarifverträge hießen Gehälterabkommen.

Unumgänglich wurde diese Gesetzesreform aber erst durch den Bankrott der Angestelltengewerkschaft FEP und die Verselbstständigung der Aleba. Der Text lässt kaum einen Zweifel daran, dass er die Aleba als Problem behandelt und lieber hätte, wenn es sie gar nicht gäbe. Nach der erfolgreichen Beschwerde der Bankgewerkschaft bei dem Internationalen Arbeitsamt soll das Gesetz lediglich das absolute Minimum vorsehen, nämlich der Aleba zu erlauben, Tarifverträge bei den Banken und Versicherungen auszuhandeln. Gleichzeitig fasst es aber die Bedingungen dafür so eng, dass die Aleba die Ausnahme bleibt, und es zu keinem weiteren Fall von sektorieller Repräsentativität kommt.

Denn sektorielle Repräsentativität soll nur spielen, wenn ein Sektor mindestens zehn Prozent der privatwirtschaftlichen Erwerbstätigen beschäftigt. Das entspräche derzeit 24 639 Arbeitern und Angestellten, trifft also nicht einmal mehr für die Stahlindustrie zu. Dagegen könnte die Baubranche knapp die Bedingungen erfüllen, möglicherweise auch der Handel. Aber es stellt sich immer die Frage, was ein Wirtschaftssektor ist. Ist der Handel beispielsweise ein Sektor, sind Einzelhandel und Großhandel zwei getrennte, oder sind Handel und Dienstleistungen ein einziger Sektor? Gibt es überhaupt nur drei Sektoren, den Primär-, Sekundär- und Tertiärsektor, oder steht jeder NACE-Code für einen Sektor?

Die Rechtssicherheit wird nicht dadurch vergrößert, dass der Minister gegenüber seinem Vorentwurf vom letzten Jahr auf Anraten des BIT und auf Druck aus den eigenen Reihen wieder etwas Wasser in seinen Wein gegossen hat. Sah der Vorentwurf bei der sektoriellen Repräsentativität das Kriterium eines Sektors mit mindestens zehn Prozent der Lohnabhängigen vor, so wird es nun dem Arbeitsminister überlassen, eine Organisation auch bei weniger als zehn Prozent anzuerkennen ­ das kann sich also mit der Zeit und der Parteizugehörigkeit der Arbeitsminister ändern. Wieder gestrichen wurde auch die vom BIT beanstandete Bedingung, dass „richtige" Gewerkschaften von einem  internationalen Dachverband anerkannt sein müssten. Und zur Ermittlung der nationalen Repräsentativität sollen nur noch die Berufskammerwahlen, nicht aber mehr die Sozialwahlen berücksichtigt werden, an denen auch Rentner teilnehmen können.

Die auf den ersten Blick recht gewerkschaftsfreundliche „Gesellschaftspolitik",  die der Gesetzentwurf beabsichtigt, hat aber auch ihren Preis. Weil insbesondere im Bankgewerbe die Tarifkonflikte fast nur noch von Richtern, Anwälten, Behörden und Ministern ausgetragen oder auch verschleppt wurden und jahrelang ein Zombie namens FEP-FIT et cadres durch die Gewerkschaftsszene geisterte, werden die Sozialbeziehungen nun bis ins letzte Detail und ziemlich schwerfällig reglementiert und vielleicht sogar überreglementiert. So dass das Gesetz fast so kompliziert wie das Pan-Gesetz ist und selbst verfassungsrechtlich bedenkliche Kapriolen vorsieht, wie Kollektivverträgen faktisch zu erlauben, gesetzliche Bestimmungen außer Kraft zu setzen.

Artikel 55 soll ermöglichen, dass unter bestimmten Bedingungen Kollektivverträge längere Arbeitszeiten als das von der Tripartite ohnehin flexibilisierte Gesetz vorsehen. Auch die Laufdauer von Kollektivverträgen soll erneut verlängert werden, und das Urteil des Schlichters soll bindend werden ­ wenn er unter diesen Bedingungen überhaupt noch angerufen wird.

Der Preis für die weitere gesetzliche Zementierung des Sozialpartnerschaft ist aber vielleicht vor allem, dass die von der Verfassung garantierte Ausübung des Streikrechts gleichzeitig weiter formalisiert und verzögert wird. Das Nationale Schlichtungsamt, das ausgebaut werden soll, wird auch explizit zuständig für die Verhinderung von Streiks im Zusammenhang mit „kollektiven Konflikten" über die Arbeitsbedingungen, selbst wenn diese nicht im Zusammenhang mit Kollektivvertragsverhandlungen stehen. „Politische Streiks", wie Pierre Werner den 9. Oktober nannte, gibt es weiterhin nicht, weil es sie nicht geben darf.

Daneben soll auch der Warnstreik gesetzlich geregelt werden: In Tarifauseinandersetzungen dürfen nur national oder sektoriell repräsentative Gewerkschaften zu einem Warnstreik aufrufen, und sie müssen ihn drei Wochen im Voraus beim Nationalen Schlichtungsamt anmelden, das dann ein Urteil fällt, um den Konflikt beizulegen. 

Das Gesetz soll auch bei dem juristisch nicht unumstrittenen Standpunkt bleiben, Streik und Aussperrung als gleichwertige Mittel in einem Arbeitskampf anzusehen.

 

Romain Hilgert
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