Flieg, Oberst, Flieg!

Zu weit geflogen

d'Lëtzebuerger Land vom 01.02.2001

Sieben Bulgaren wollen nach Europa. Sieben Bulgaren fahren also nach Straßburg. Es ist keine einfache Reise mit gebuchtem Hotel, Retourticket einer Fluggesellschaft und Lichterfahrt durch die nächtliche Domstadt, die der Bulgare Christo Bojtschew in seiner Theaterparabel Flieg, Oberst, Flieg! beschreibt. Es sind sieben "verrückte" Bulgaren, die sich auf den Weg machen, und es ist nicht die Fahrt alleine von Bulgarien nach Frankreich, sondern es ist vielmehr das Sich-auf-den-Weg-Machen, der Aufbruch, der einem Ausbruch in die Illusion gleich kommt und die Ankunft in der Ernüchterung der realen Welt. 

Auch Bojtschew hat die "geschlossene" Gruppe einer psychiatrischen Anstalt im bulgarischen Hinterland als Sinnbild für die Gesellschaft genommen und in sie hinein gegenwärtige Probleme transferiert. Gleich den sechs Patienten und ihrem Doktor macht sich dieser Jahre die bulgarische Bevölkerung auf ihren Weg nach Straßburg in Europa. Bojtschew zeigt in seinem Stück, dass hier - wie auch im wirklichen Leben - der erste Schritt immer der schwierigste ist. Die Lethargie des Daseins fördert die Assimilation an die Ungastlichkeit des Wahrseins. Erst ein Wolf im Schafsfell - hier zeigen sich viele Parallelen zu postkommunistischen Staaten und Transformationsgesellschaften etwa in Serbien, Belarus oder der Slowakei - bringt die Nation zum Gehen, sogar ins Laufen in die Desillusion, in eine falsch verstandene Wirklichkeit, in ein überzeichnetes Europa. 

Bei Flieg, Oberst, flieg! beginnt die Maskerade, als während des Balkankriegs die britische Luftwaffe bei der Verteilung "humanitärer Hilfe" aus der Luft ihr Ziel verfehlt und Hilfs-pakete nahe der psychiatrischen Anstalt in einem alten Kloster abwirft. In den Paketen finden sich auch Uniformen der Uno-Truppen, die die Eingesperrten als ihre Chance erkennen und mit denen sie sich auf den Weg nach Straßburg machen.

Frank Hoffmann hat das Stück nun in deutscher Erstaufführung für das Schauspiel Bonn inszeniert. Es ist eine weitere Inszenierung Hoffmanns nach dem viel beklatschten und in einer Endlosschleife gespielten Black Rider und einer weniger glücklichen My Fair Lady für Theater und Oper der Bundesstadt. Die Anordnung von Bühne und Zuschauerplätzen (Bühnenbild: Christoph Rasche) in der Schauspielhalle im Bonner Stadtbezirk Beuel erinnert an ein Panoptikum, etwa an das Staatsgefängnis in Rennes im neunzehnten Jahrhundert: Mit der Bühne im Mittelpunkt folgen die Zuschauer dem Schauspiel wie einem Experiment im Reagenzglas. 

Der Weg zu Michel Foucaults Überwachen und Strafen scheint nicht weit - das Publikum schaut nicht mehr zu, sondern beobachtet still und für das Reagenz nicht wahrnehmbar. Allerdings wirkt das Reagenzglas, die Bühne hin und wieder zu rein, zu sauber, zu glatt - statt verwahrloster, heimatloser Psychiatrie in einem verfallenen bulgarischen Kloster Die heiligen 40 Märtyrer, schien dieser Ort in den fingerfarbenmunter dekorierten Zimmern der klinischen Station der Bonner Rheinischen Landesklinik zu liegen. 

Dennoch gelingt es Hoffmann und den Schauspielern, die "Verrückten" in ihrer verrückten, heimat- und haftungslosen Gesellschaft zu zeigen. Justus Fritsche überzeugt als Oberst Fetisov - der drei Jahre lang nicht spricht, aber als der Katalysator, die Uniformen, über den Geschehnissen niedergehen, das Kommando an sich reißt und die Menschen zum Gehen bringt - mit einem aberwitzigen Plan, doch dieser gelingt und die sieben Bulgaren schaffen den Weg. 

Die übrigen Darsteller spielen die Anormalen mit erschreckender Normalität. Jeder - ob Pepa (Katinka Heise), die Maria Magdalena im Stück, oder Davud (Timo Berndt), als impotenter Roma der Ausgestoßene unter den Ausgestoßenen - hat zwar seinen Spleen, doch in ihren Wünschen und in ihrem Verlangen sind sie nicht abwegiger denn der "normale" Zuschauer am Rande der Bühne. 

Einzig Hanns Jörg Krumpholz als Der Doktor schafft es nicht, die Zwiespältigkeit und die Wandlung der tragischen Figur im Stück glaubhaft darzustellen. Er bleibt blass und lapidar, die innere Zerrissenheit und der Wankelmut des einzig "Normalen" kommt nicht vor. Doktor Krumpholz bleibt seelenlos, und seine Willenlosigkeit beim Aufbruch aus den geordneten Verhältnissen der - von ihm dominierten - Psychiatrie am Rande der Gesellschaft, sein Weg aus der Distanz zur bedingungslosen Teilnahme, seine Korrumpierbarkeit bleiben unerklärt und ungespielt. Die Musik zum Stück, die mit witzigen Einfällen dem hoffnungslos scheinenden Dasein in bulgarischer Einöde sowohl die bleierne Schwere als auch unerwünschte Leichtigkeit nimmt, stammt auch von einem Luxemburger, von René Nuss.

Hoffmann hat sich mit seinem Inszenierung in Bonn ein wenig auf Glatteis gewagt, denn der Bonner hat den Vergleich: Während der Bonner Biennale im vergangenen Sommer gastierte das Dramatische Theater Ivan Radoev aus dem bulgarischen Pleven mit dem gleichen Stück - im bulgarischen Original - am Rhein. Die Aufführung bestach durch ihre atmosphärische Dichte und die schauspielerische Leistung des bulgarischen Ensembles. Doch der größte Unterschied zwischen beiden Inszenierungen war das Ende: Während das bulgarische Ensemble beim Aufbruch innehielt, lässt Hoffmann sie marschieren, sie durch Europa ziehen und in Straßburg - am gesetzten Ziel - ankommen. 

Die Bulgaren wollten in der Illusion eines besseren Lebens in einem besseren Europa verharren und lösten den Selbstbetrug nicht auf, ob gutes Märchen oder böses Ende blieb beim Zuschauer. Die Ernüchterung kommt bei Hoffmann zu schnell, die Desillusion ist zu plump, zu platt, unglaubwürdig. Hoff-manns bis zum Aufbruch der Psychiatriebesatzung gelungene Inszenierung verläuft sich am Ende nicht in Europa, sondern im Nirgendwo.

 

Flieg, Oberst, Flieg! - am 9., 13., 14., 16. und 18. Februar am Schauspiel Bonn in der Halle Beuel, Siegburger Straße. Beginn jeweils um 19:30 Uhr - weitere Informationen im Internet unter http://kultur.nettrade.de/theater/schauspiel-bonn/

 

Martin Theobald
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