Betrachtungen zur Geschichte des Parlamentsgebäudes in Luxemburg

„Bleiwt um Krautmaart!“*

d'Lëtzebuerger Land vom 05.06.2020

Am 28. Februar 2020 fand die internationale wissenschaftliche Tagung „Suffrage uni-versel au Luxembourg et en Europe“ im Sitzungssaal der Chambre des Députés statt. Die Autorin hatte die Gelegenheit, einen Vortrag zu präsentieren, auf dessen Grundlage der folgende Artikel beruht.1 In ihren einleitenden Worten verwies die Autorin darauf, dass es durchaus keine Selbstverständlichkeit darstelle, dass der Ort der Tagung, das Gebäude auf dem Krautmarkt, auch im Jahr 2020 in seiner ursprünglichen Form fortbesteht. Die Tagungsteilnehmer wiederum konnten sich wenige Wochen vor der Ausrufung des Krisenzustands in Luxemburg ihrerseits nicht vorstellen, dass schon in Kürze vorübergehend keine Plenarsitzungen mehr im Chamber-Gebäude stattfinden würden. Der Parlamentssitz wurde für die Dauer der Corona-Krise am 17. April 2020 zugunsten des Cercle aufgegeben, wo eine Anpassung an die neuen hygienischen Vorschriften möglich ist. Damit erlebt das luxemburgische Parlament seit dem Bau des Gebäudes zum dritten Mal eine Periode, in der keine Sitzungen auf dem Krautmarkt stattfinden.2 Die Beschäftigung mit der Geschichte des Parlamentsgebäudes hat durch die Folgen der Pandemie unerwartet an Aktualität gewonnen.

Als Parlamentspräsident Charles-Jean Simons in einer Plenarsitzung im Juni 1901 darauf hinwies, dass die luxemburgische Regierung sich der Frage nach einer neuen Lokalität für die Parlamentarier in Kürze würde annehmen müssen, konnte er nicht ahnen, wie viele Jahrzehnte an Diskussionen über eben dieses Thema den luxemburgischen Abgeordneten bevorstehen würden. Sein Hinweis auf unangemessene Räumlichkeiten und die Notwendigkeit, einen neuen Standort zu suchen, da sich das Parlamentsgebäude nicht für Vergrößerungen eigne, blieb lange ungehört. Erst in späteren Diskussionen wurde er häufig zitiert und seine damalige Aussage als Beleg für die Überfälligkeit einer Entscheidung herangezogen, die schließlich erst am Ende des 20. Jahrhunderts getroffen werden sollte.

Das luxemburgische Parlament erhielt in den Jahren 1858 bis 1860, etwas mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Gründung, ein eigenes Gebäude im Zentrum der Stadt Luxemburg, in der Rue du Marché-aux-Herbes, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Palais de Gouvernement, das inzwischen zum Sitz des Großherzogs geworden war. Zuvor hatten die Abgeordneten als sogenannte „assemblée itinérante“ in verschiedenen anderen Gebäuden getagt.3

Der Bau des Luxemburger Abgeordnetenhauses lag von seinem Zeitpunkt her international im Trend – wurden doch zahlreiche Parlamentsgebäude im Laufe des 19. Jahrhundert errichtet. In der Forschung wird die Geschichte des Parlamentsbaus vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung der Institution betrachtet: Da die Parlamente sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einer „zentralen Verfassungsinstitution“ 4 in ihren Staaten entwickelten, wäre es konsequent gewesen, auch die Gebäude den neuen Anforderungen anzupassen. Stattdessen jedoch musste vielerorts eine „Adaptation demokratischer Parlamente an eine vordemokratische Bausubstanz“5 erfolgen.

In Luxemburg waren bereits wenige Jahre nach Fertigstellung des Parlamentsgebäudes die Klagen über Platzmangel zahlreich und deutlich zu vernehmen, sodass schon 1880 erste bauliche Erweiterungen durchgeführt wurden. Weitere Maßnahmen zur Vergrößerung des Sitzungssaales sowie des gesamten Gebäudes wurden dann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vorgenommen.

Nichtsdestotrotz blieb das Problem der allzu beengten Verhältnisse auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestehen und führte dazu, dass in den 1950er und 1960er Jahren die Frage des Neubaus erneut aufgegriffen wurde. Dabei zog man verschiedene Standorte für ein neues Parlament in Erwägung. Dazu gehörten unter anderem: Place d’Armes mit dem Bereich der späteren Cour des Comptes sowie mit dem Cercle municipal, Glacis, Avenue de la Liberté mit Place des Martyrs (Rousegäertchen), Rue des Capucins, Plateau de Kirchberg sowie Plateau Saint-Esprit.6 In mindestens zwei Fällen waren die Planungen bereits so weit fortgeschritten, dass Architekten mit der Ausarbeitung von Plänen beauftragt worden waren. Dennoch konnte man sich in all diesen Jahren nicht zu einer Entscheidung für eines der Vorhaben durchringen.

Ende der 1960er Jahre einigte man sich dann intern auf einen Standort für den Parlamentsneubau – das Heilig-Geist-Plateau am Rande der Altstadt wurde nun als geeignet erachtet – und veranschlagte entsprechende Mittel im Staatsbudget des Jahres 1972 für vorbereitende Arbeiten. Dies führte zur Ausschreibung eines Architekturwettbewerbs im Jahr 1973. Auch die Presse nahm sich in der Folge des Themas Parlamentsneubau verstärkt an. Einige Stimmen befürchteten eine Verschandelung des Stadtbilds, andere zu hohe Baukosten. Der Journalist und spätere Parlamentspräsident Mars Di Bartolomeo (LSAP) gehörte zu den Befürwortern des Neubauprojekts: Für ihn stellte sich die Frage, ob hiermit (endlich) ein lange währender „Spuk zur Wirklichkeit“ werde.7

Der nächste Schritt lieβ jedoch noch bis zum Beginn des folgenden Jahrzehnts auf sich warten: Im Sommer 1980 brachte Bautenminister Boy Konen das noch unter seinem Vorgänger Jean Hamilius vorbereitete Gesetzesprojekt zur Realisierung des inzwischen modifizierten Bauprojekts sowie zur Neugestaltung des gesamten Heilig-Geist-Plateaus im Parlament ein. Die Planung des Architektentrios Fabrizio Cocchia, Christophe Klein und René Muller sahen vor, dass das Parlament einen halbkreisförmigen Sitzungssaal („Hémicycle“) bekommen sollte. Darüber hinaus waren im neuen Gebäude unter anderem Säle für Kommissionssitzungen, außerdem Räume für die Fraktionssekretariate sowie Versammlungsräume für die Fraktionen, verschiedene für die Presse reservierte Bereiche sowie eine größere Anzahl an Büros für die Mitarbeiter der Verwaltung vorgesehen.

Analysiert man die Redebeiträge in den Debatten um diesen geplanten Parlamentsneubau, so lassen sich fünf wichtige Themenkomplexe herausfiltern: Es handelte sich dabei 1) um den Zustand des Gebäudes auf dem Krautmarkt, das von vielen Abgeordneten aufgrund beengter Verhältnisse als nicht mehr zumutbar angesehen wurde, 2) um das Ziel einer moderneren Arbeitsweise innerhalb des Parlaments, 3) um die historischen Traditionen, die mit dem Gebäude verbunden waren und die es zu respektieren gelte, 4) um den Blick auf die Situation der Finanzen des Staates, die unmittelbar vor dem Aufziehen einer Finanzkrise als schlecht dargestellt wurden und 5) schließlich um die Stellung des Parlaments innerhalb des Institutionengefüges des Staates.

Die jahrzehntelang aufgeschobene Entscheidung über einen Neubau wurde von den Abgeordneten im Jahr 1980 als längst überfällig empfunden. Sie votierten parteiübergreifend und fast einstimmig für das Gesetzesprojekt und damit zugunsten des Parlamentsneubaus.

Trotz des positiven Votums der Abgeordneten wurde der Neubau jedoch bereits einige Monate später von der Regierung mit Verweis auf die neuen Prioritäten während der Finanzkrise nicht mehr im Budget vorgesehen und war damit sang- und klanglos ad acta gelegt worden. Erst Ende der 1990er Jahre entschied man sich schließlich für eine Renovierung sowie eine Erweiterung des Gebäudes in seiner heutigen Form auf dem Krautmarkt.

Die Autorin ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche Archivarin. Seit 2008 betreut sie das Parlamentsarchiv der Chambre des Députés. Der diesem Artikel zugrunde liegende wissenschaftliche Beitrag ist aus privatem Forschungsinteresse der Autorin und außerhalb ihrer dienstlichen Tätigkeit entstanden.

* Überschrift eines Artikels von Jean Jaans in der Zeitschrift Revue vom 8.4.1978. Die Aufforderung an die Parlamentarier, auf dem Krautmarkt zu bleiben, wäre aktuell wohl umzuformulieren in den Wunsch, dorthin zurückkehren zu dürfen.

1 Die wissenschaftliche Publikation zu diesem Vortrag wird im Laufe des Jahres 2020 unter dem Titel „Bleiwt um Krautmaart!“ – Die Debatten um den gescheiterten Neubau der Chambre des Députés (1978-1980): Zur symbolischen Funktion des Parlamentsgebäudes in Luxemburg“ im Begleitband der Tagung erscheinen: Frieseisen, Claude/ Moes, Régis/ Polfer, Michel/ Wagener, Renée (Hg.): Allgemeines Wahlrecht in Luxemburg und Europa, Konferenzband zur internationalen Tagung vom 27./28.2.2020 in der Luxemburger Abgeordnetenkammer (Arbeitstitel). In dieser Publikation werden auch die Zitate und wissenschaftlichen Belege zu finden sein, auf die in diesem Artikel weitestgehend verzichtet wurde.

2 Von 1940 bis 1944 war das Parlamentsgebäude von den deutschen Besatzern okkupiert und zur Außenstelle des „Reichspropaganda-Amtes“ umfunktioniert worden. Zwischen 1997 und 1999 wurde wegen Renovierungsarbeiten am historischen Parlamentsgebäude der Sitzungssaal der Stadt Luxemburg genutzt.

3 Den Begriff benutzt in diesem Zusammenhang Huberty, Christiane : La Chambre des Députés à l’époque du suffrage censitaire (1848-1919) – pouvoirs, représentations, mémoire, in: Jungblut, Marie-Paule, Les maisons Richard et Printz. Regards sur un quartier historique de la ville de Luxembourg, Luxemburg 2006, S. 104-120.

4 Wefing, Heinrich: Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses (Beiträge zum Parlamentsrecht, Bd. 31), Berlin 1995, S. 81.

5 Beyme, Klaus von: Demokratie, Parlament und Öffentlichkeit. Die Visualisierung demokratischer Grundprinzipien im Parlamentsbau, in: Flagge, Ingeborg/Stock, Wolfgang Jean (Hg.), Architektur und Demokratie. Bauen für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992, S. 32–45, S. 34.

6 Vgl. Exposé des motifs, Document parlementaire, Nr. 2418/00, S. 3. Zum Vorschlag den „Cercle municipal“ der Stadt Luxemburg abzukaufen und als Parlamentssitz umzufunktionieren: Krieps, Roger: „Muss es denn der „Cercle“ sein? Für einen würdigen Standort des neuen Kammergebäudes, in: d’Lëtzebuerger Land 27 (8.7.1966), S. 5.

7 Di Bartolomeo, Mars: Kammerneubau: Wird ein Spuk zur Wirklichkeit ?, in : Tageblatt (11.4.1979).

Christine Mayr
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