Monarchie

Wilhelm V., Großherzog 2026

d'Lëtzebuerger Land du 21.12.2000

Die kleine, ältere Frau zieht einen Einkaufswagen hinter sich her. Er ist grün wie ihr Anorak. Auf dem Kopf trägt sie eine dunkelgraue Pelzmütze. Pelzmützen tragen die meisten Frauen in der Kathedrale. Der Einkaufswagen scheint fast leer zu sein, der Sack hängt schlapp herunter. Was kann auch darin sein? Der Markt ist längst vorüber. Draußen ist es bereits dunkel, in der schwarzen, regennassen Straße spiegeln sich die Scheinwerfer zweier Limousinen. Polizeibeamte mit krächzenden Funkgeräten und Maschinenpistolen haben die rue Notre-Dame abgesperrt. Verzweifelt ist der Bauzaun der Kathedrale mit Girlanden aus Tannenzweigen geschmückt.

Mit ihrem Einkaufswagen eilt die Frau den Seitengang der Kathedrale hinauf und hinunter und hält durch ihre goldgerandete Brille Ausschau nach einem günstigen Sitzplatz. In der Eingangstür wartet der Erzbischof in vollem Ornat mit Spitzhut und Krummstab, dahinter eine ganze Prozession Geistlicher, Chorknaben und -mädchen, einer hält ein meterhohes silbernes Kruzifix, ein anderer eine Glaskugel mit einem roten Licht. Der Erzbischof macht ungeduldig einige Schritte, plaudert links und rechts. Ein dienstbarer Geist trocknet zum letzten Mal mit einem breiten Gummiwischer die Fliesen, eher das Staatsoberhaupt des Jahres 2026 unter Orgelklängen seinen Fuß darauf setzt.

Großherzog Jean war zuvor 27 Jahre lang Erbgroßherzog, Großherzog Henri 25 Jahre. Nach diesen Erfahrungswerten dürfte Thronfolger Guillaume, dem am Montag der Titel des Erbgroßherzogs verliehen wurde, im Jahr 2026 Großherzog werden.

Die USA kannten ihr Staatsoberhaupt noch einen Monat nach den Wahlen nicht. Doch in Luxemburg wird schon der Wechsel in einem Vierteljahrhundert vorbereitet, damit er in der Kontinuität geschieht. Veränderung in der Kontinuität ist das A und O jedes CSV-Wahlprogramms, Zeitlupenbewegung, die so langsam ist, dass sie guten Gewissens mit Stillstand verwechselt werden kann. Und im Gegensatz zu unvorhersehbaren Ereignissen wie demokratischen Wahlen ist die wichtigste Funktion der Monarchie, Garantin der Kontinuität im Staat zu sein.

Doch wie panisch muss die Angst dieses Staates vor jeder Form von Veränderung sein, dass er sich unbedingt schon heute mit allem Pomp auf den Staatschef des Jahres 2026 festlegen muss? Dass die in der ersten Reihe der Kathedrale versammelte Regierung nicht nur die grimmigen Polizeibeamten mit Trenchcoats und Ohrstöpseln, sondern sogar Gott um Schutz für einen verlegen lächelnden Teenager anfleht, der in 20 oder 30 Jahren einmal Staatsoberhaupt werden muss?

Eine junge Frau liest einen Absatz aus dem pseudepigraphen ersten Brief von Apostel Paulus an dessen Abgesandten Timotheus mit der "Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit." Und alle beten für ein ruhiges und stilles Leben.

Bei der Thronbesteigung seilt die Dynastie sich zur Sicherheit gleich doppelt fest: Während das amtierende Staatsoberhaupt noch herrscht, bekommt der gerade volljährige Erbprinz schnellstmöglich den Titel des Erbgroßherzogs und wird später dann auch noch Großherzog-Statthalter. So als wäre nicht nur der Staat um Kontinuität um jeden Preis besorgt, sondern als hätte auch die Dynastie Angst, dass ihr der Thron im Paragraphen-dschungel des erneuerten Nassauer Erbvereins abhanden käme. Selbst für diesen Fall sieht die Verfassung ohne öffentliche Ausschreibung vor: "En cas de vacance du Trône, la Chambre pourvoit provisoirement à la régence. - Une nouvelle Chambre, convoquée en nombre double dans le délai de trente jours, pourvoit définitivement à la vacance."

"Elo hu mer genuch gesinn", entscheidet eine Zuschauerin und trottet regenschirmschwingend mit ihrer Nachbarin fort. Statt offizielle Einladungen an Würdenträger und ausländische Gesandte war eine informelle Einladung "an das ganze Volk" ergangen, dem Gottesdienst zu Ehren des neuen Erbgroßherzogs beizuwohnen. Gekommen sind aber fast nur Gläubige und Vorwitzige nahe am oder im Rentenalter, mehrheitlich Frauen, einige kleinwüchsige Nonnen in schweren schwarzen Mänteln und einige ratlose Touristen mit Pocketkameras. Sie recken alle die Hälse, um die großherzogliche Familie vorne zur Linken des mit Weihnachtssternen geschmückten Altars zu sehen, denn den Würdenträgern war es auch ohne protokollarische Sitzordnung gelungen, die vordersten Plätze zu belegen.

Der nur noch halbstaatliche Charakter des Gottesdienstes sollte ein wenig das enge Verhältnis zwischen Thron und Altar lockern. Angesichts der sich weiter leerenden Kirchen soll der Erbgroßherzog nicht von einer laizistischen Bevölkerungsmehrheit als katholischer Randgruppengroßherzog angesehen werden, wenn er einmal als Wilhelm V. den imaginären Thron besteigt.

Denn der Name Guillaume brachte Großherzögen bisher wenig Glück. Die Vorgänger, die despotischen und raffgierigen niederländischen König-Großherzöge Wilhelm I. (1815-1840, Revolution), Wilhelm II. (1840-1849, Revolution) und Wilhelm III. (1849-1890, Putsch) sowie der unziemlich verheiratete und ständig sieche Großherzog Wilhelm IV. (1905-1912) waren alles andere als populär.

Am Montag war der künftige Großherzog noch ein schüchterner Neunzehnjähriger mit streng nach hinten geöltem Haar und Hautproblemen, als Premier Jean-Claude Juncker während einer steifen Zeremonie im Palais quer über das glänzende Parkett des Festsaals lief, um einen Erlass zu unterbreiten. Mit dem schon im Voraus in der unteren linken Ecke von Juncker gegengezeichneten Erlass verlieh Großherzog Henri seinem ältesten Sohn die Titel des Erbgroßherzogs, Erbprinzen von Nassau und Prinzen von Bourbon-Parma.

Nur ein Titel, den sein Vater und sein Großvater als Erbgroßherzöge trugen, bleibt Guillaume bisher vorenthalten: der eines Offiziers der Luxemburger Armee. Bisher ging auch keine Rede davon, dass Guillaume, der derzeit sein Abitur in der Schweiz vorbereitet, wie seine Ahnen nach dem Abitur eine Militärakademie besucht, bevor er die wenig zivilere Kunst der Politikwissenschaft studiert. Vielleicht will der Thron nicht nur sein Verhältnis zum Altar, sondern auch zum Schwert lockern, ein weiteres staubiges Relikt des 19. Jahrhunderts. Obwohl Artikel 37 der Verfassung dem Großherzog den Oberbefehl der Armee anvertraut und ihm das Recht einräumt, Kriege zu erklären.

Als Zeugen der Ernennung waren im Festsaal des Palais zur Rechten die Vertreter der Exekutive, zur Linken der Legislative säuberlich aufgereiht. Sitzen wäre der Erhabenheit der Zeremonie ebenso unangemessen gewesen wie jede Bekleidung, die farbenfroher als dunkelgrau gewesen wäre. 

Nach der Unterschrift des Großherzogs hob Kammerpräsident Jean Spautz inmitten eines Schwalls von Gold und Stuck, Kronleuchtern und Kerzenständern, Quasten und Fransen die Volksnähe des "mit anderen jungen Leuten aus ganz Luxemburg" aufgewachsenen Erbgroßherzogs hervor.

In der Tradition der Dynastie fallen dem durch Geburt auserwählten Schüler nun für 19-Jährige nicht unbedingt spannende Ehrenämter wie der Vorsitz der Behindertenstiftung Kräizbierg und des Board of Economic Development oder die Förderung der von seinem Großvater leidenschaftlich beschirmten Pfadfindervereinigung zu. Etwas aufgeregt unter einer erdrückenden Last von Ernsthaftigkeit und Pflichtbewusstsein betonte Guillaume in seiner ersten Ansprache, dass er nun Mitglied des Staatsrats werde, um "die Arbeit der demokratischen Institutionen kennenzulernen".

Im Staatsrat wird Guillaume, qui aura 45 ans en l'an 2026, dann erfreut oder entsetzt erfahren, dass er vielleicht der Großherzog eines angeb-lichen Riesenvolks von 700 000 Einwohnern wird, dass sein kleines Reich dann mit aktuarieller Wahrscheinlichkeit an eine Rentenmauer prallt oder er auch nur einer von 30 Gouverneuren der Vereinigten Staaten von Europa sein wird. Doch vielleicht fliegen 2026 auch nur endlich die Autos zwischen den Wolkenkratzern umher, wie die Science fiction-Literatur schon seit 100 Jahren verspricht.

 

 

Romain Hilgert
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