Die Jugendschutzreform lässt auf sich warten. Pflegeeltern warnen dringend vor akuten und strukturellen Gefahren fürs Kindswohl

Vom Staat vernachlässigt

d'Lëtzebuerger Land du 03.07.2020

„Gestern Abend fragte mich der Kleine: Warum kämpfst Du nicht um mich?“, erzählt der Anrufer und man hört, wie der Mann mit seinen Gefühlen ringt. „Was soll ich ihm sagen? Wir werden komplett allein gelassen.“

Beide im Sozialbereich tätig, wussten er und seine Partnerin, dass Pflegeeltern zu sein nicht einfach werden würde. „Aber dass es so ein Alptraum wird, hätten wir niemals gedacht.“ Als sich die beiden vor einigen Jahren als Ersatzeltern bewarben, geschah dies, um zu helfen: „Wir wollten einem Kind, dem es nicht gut geht, ein Zuhause bieten“, erzählt der Mann. Wie andere Pflegeeltern vor ihnen durchlaufen sie das Verfahren: eine gründliche Prüfung der Familienverhältnisse, eine mehrstündige Weiterbildung. Vor die Wahl gestellt, kreuzen sie Langzeitpflege an: „Wir haben bereits ein leibliches Kind und wollten eine gewisse Kontinuität.“ Um vom Staat als Ersatzeltern anerkannt zu werden, mussten sie ihr Eigenheim kindersicher umbauen. Dann kam der Anruf, sie könnten sich ein Kind anschauen. „Das war ein klein bisschen wie bei einem Tierasyl“, erinnern sich die beide an die befremdliche Situation, als sie F. das erste Mal in einem Kinderheim besuchten.

„Ich habe mehrfach nachgefragt, ob der Junge auf längere Zeit bei uns bleiben kann. Wir wollten keine falschen Hoffnungen wecken.“ Die Pflegedienststelle versicherte, die Mutter sei arbeitslos und psychisch labil, eine baldige Rückkehr somit ausgeschlossen. Viel mehr erfahren die Ersatzeltern nicht. Außer dass ihr Schützling aus einem zerrütteten Elternhaus stammt, nicht dessen einziges Kind ist und noch in die Hose macht. Es gab keinen Entwicklungsbericht. „Einen Hilfeplan bekamen wir auch nicht“, so der Pflegevater. Wie durch ein Wunder hört der Kleine bald auf, sich einzunässen. Das Einleben verläuft viel versprechend. „Anfangs hat er gefremdelt und war verängstigt. Aber mit der Zeit wurde er zutraulicher, lebte auf.“ Der Junge ging in die Vorschule, mit dem Geschwisterchen in der Pflegefamilie kam er prima zurecht.

Wären da nicht die Treffen mit der biologischen Mutter gewesen. Den Kontakt zur Herkunftsfamilie zu halten, ist integraler Bestandteil einer Pflegschaft. Der Pflegeelterndienst machte mit der Mutter den Termin aus. „Wir wurden nicht gefragt, was wir davon halten.“ Nach dem Treffen, das zunächst in Anwesenheit einer Sozialarbeiterin stattfinden, kommt F. verstört zurück. Er beginnt, wieder in die Hose zu machen, entwickelt Ticks, schläft schlecht. Sie versuchen, dem verunsicherten Jungen Halt zu geben. Nach einigen Monaten scheint er sich wieder zu stabilisieren. Trotzdem kommt ein Jahr später die Hiobsbotschaft: F. soll zurück zur leiblichen Mutter. „Obwohl sie keine Arbeit hat und bei Besuchen ihrer Kinder völlig überfordert wirkt.“ Die Pflegeeltern verstehen die Welt nicht mehr. Das Land kann ihre Schilderungen nicht unabhängig überprüfen. Jugendschutzfälle sind laut Gesetz mit Diskretion zu behandeln, um Stigmatisierungen zu vermeiden. Datenschutzgründe erschweren die Recherche.

Bleiben die Berichte, die die Pflegeeltern akribisch gesammelt haben. Da ist die Klassenlehrerin, die lobt, wie gut sich der Junge bei den Pflegeeltern entwickelt hat, bis plötzlich seine Leistung einbricht. In den Wochen des Lockdown, als der Junge einige Tage bei der biologischen Mutter wohnt, ist er unkonzentriert, wirkt während der Visiokonferenz blockiert, schafft die Hausaufgaben plötzlich nicht. Dem Pflegschaftsdienst zufolge sei der Junge nach Treffen mit der Mutter aufgewühlt. F. erzählt von Strafen, weil er nicht gehorcht habe. Trotzdem dehnt der Sozialdienst Scas die Besuchszeit der biologischen Mutter aus, ohne zuvor die Pflegeeltern angehört zu haben. Der Kinderpsychologe, von der Familie aufgrund der Gefühlsaufbrüche hinzugezogen, stellt bei F., der inzwischen weiß, dass er zurück zur Mutter soll, eine Belastungsstörung fest: Alpträume, massive Verlustängste. In einem Brief ans Jugendgericht rät der Therapeut von einer Rückführung ab; der Junge habe wiederholt ausgesagt, in der Pflegefamilie bleiben und seine biologische Mutter nur ab und zu besuchen zu wollen.

Es hilft alles nicht. In den Sommerferien muss er zurück zur Mutter. Auch dem von den verzweifelten Pflegeeltern hinzugezogenen Kinderanwalt sagt F., er möchte in seiner neuen Familie bleiben. Nach der Beratung wirkt er mutlos und traurig: Der Anwalt habe gesagt, er könne nicht helfen. „Was hat das mit Kindeswohl zu tun? Wie sollen wir ihn schützen, wenn wir selbst keinen Schutz erfahren?“, fragt der Pflegevater empört. „Wir können nichts tun. Nicht einmal Einspruch erheben können wir.“ In der Hoffnung, sich erklären zu können, schreiben sie dem Gericht. Der Richter meldet sich nicht zurück.

Für die Pflegeeltern ist es ein Schock. Nicht nur, weil sie überhaupt nicht mit einer solchen Wendung gerechnet hatten; schließlich war ihnen von den Behörden zugesichert worden, F. werde viele Jahre bleiben können. Als schlimm erleben sie auch die Entmündigung während des Verfahrens. „Wir haben null Mitspracherecht. Der Richter hat uns nicht einmal angehört.“ Sogar der Sachbearbeiter vom Jugendamt ONE habe nicht von sich aus Kontakt aufgenommen. „Ich habe die Person um ein Gespräch gebeten.“ Einen ONE-Hilfeplan hätten sie nie gesehen. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich an das Ombudskomitee für Kinderrechte; ohne Erfolg. Dass die Rechtslage von Pflegeeltern schwach ist, ist ein offenes Geheimnis. Obwohl der Staat Pflegschaften finanziert und fördert, um die Zahl der Kinder in Heimen zu senken, und dafür 2017 eine eigene TV-Kampagne gestartet hatte, hat sich ihr Statut nicht verbessert. Der damalige Jugendamtsleiter Jeff Weitzel mahnte schon vor Jahren, das Pflegschaftswesen gehöre dringend und gründlich überholt.

Kurz vor Amtsende verfasste Weitzel ein Konzept, wie die Rolle der Pflegeeltern aufgewertet, ihre Stellung im Jugendhilfeverfahren verbessert und ihre Arbeit professionalisiert werden könne. Die Initiative kam nie über einen Entwurf hinaus. Laut zuständigem Abteilungsleiter Gilles Dhamen habe das Erziehungsministerium seine Ansichten zu Pflegefamilien „keineswegs geändert“ und sehe die Reform weiterhin als „ganz wichtig“ an. Weil die Mehrheit der 599 Pflegekinder durch Gerichte platziert wird, mache es jedoch keinen Sinn, einen Text auf den Instanzenweg zu geben, bevor nicht die Jugendschutzreform stehe. Sie sieht Änderungen beim Sorgerecht vor, das nicht, wie das heute der Fall ist, bei Einweisungen und Pflegschaften stets auf die Träger übergeht, sondern künftig nur in Ausnahmefällen den leiblichen Eltern entzogen werden soll.

Das allerdings beunruhigt Pflegeeltern hierzulande sehr. In seinem Gutachten zum ersten, vom damaligen Justizminister Félix Braz angefertigten Entwurf, wehrt sich ihr Dachverband dagegen, Pflegschaften ohne elterliche Sorgerecht zu übernehmen. Sie befürchten, in „elementaren Angelegenheiten im Alltag“ durch nicht kooperierende, biologische Eltern ausgebremst und abhängiger als ohnehin von Pflegschaftsstellen zu werden. Konflikte mit der Herkunftsfamilie sind kein Einzelfall. Ob beim Besuchsrecht, bei der Schul- und Arztwahl oder der Ausbildung sind Entscheidungen stets in Absprache mit den Pflegedienststellen zu treffen. Hinzu kommt: Biologische Eltern und Pflegeeltern werden oftmals von unterschiedlichen Diensten betreut, die nicht dieselben Missionen haben, darum nicht immer einer Meinung sind und mitunter mehr schlecht als recht zusammenarbeiten.

Obwohl Unterbringungen in Pflegefamilien mit dem Kindeswohl begründet werden, sind sie kompensatorisch und temporär angelegt: Sie springen ein, wenn die Herkunftsfamilie versagt, wenn eine gesunde Kindesentwicklung aufgrund von Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung oder Sucht gefährdet ist. Pflegschaften sind in einem delikaten Spannungsfeld, das manchmal einem Minenfeld gleicht: zwischen der Herkunftsfamilie, die sich Hoffnung auf Reintegration ihres Kindes macht, und den Pflegeeltern, von denen Behörden erwarten, dass sie den Kindern ein geordnetes Lebensumfeld und neue Entwicklungsperspektiven bieten. „Damit Kinder die oft traumatischen Erfahrungen in der Herkunftsfamilie verarbeiten können, brauchen sie Ruhe, Stabilität und Kontinuität, sagt Susanne Stroppel, Psychotherapeutin mit Praxis, die selbst ein Kind in Pflege hat. Insbesondere bei kleinen Pflegekindern sei Stabilität wichtig, um neues Vertrauen aufzubauen. „Bindungstheoretisch ist von einer Herausnahme aus einer bewährten Pflegefamilie bei kleinen Kindern in jedem Fall abzuraten“, warnt Stroppel. Ansonsten drohten Re-Traumatisierungen durch den neuerlichen Beziehungsabbruch.

Erfahrungsgemäß bleiben Kinder viel länger, weil die leiblichen Eltern oft auch nach Jahren nicht in der Lage sind, dem Nachwuchs ein stabiles Zuhause zu bieten. Oder weil Kinder mit andauernder Pflegschaft den Bezug zu ihren Wurzeln verlieren. Wie lange Pflegschaften durchschnittlich dauern, ist unklar: Qualitative Daten publiziere man nicht, so ONE-Leiterin Pascale Arend. Die Erhebung von Jugendhilfe-Statistiken ist, wohlgemerkt, gesetzliche Aufgabe des Jugendamts. Auch die Justiz veröffentlicht keine Analysen zum Jugendschutz. Eine der seltenen Studien zu Pflegschaften der Uni Luxemburg untersuchte die Übergänge von Pflegekindern in die Volljährigkeit: Interviewte berichteten von Verunsicherung und unklaren Zukunftsperspektiven, obwohl sie zehn Jahre und mehr in Pflegefamilien lebten. Seltene Längsschnittstudien stellen eher ungünstigere Entwicklungsverläufe bei rückgeführten Kindern fest, oder aber deutlich mehr belastende Lebensereignisse, die sie in den Herkunftsfamilien aushalten mussten im Vergleich zu denen, die in Pflegefamilien verblieben.

In diesem schwierigen Spannungsfeld scheinen indes weder das Jugendamt ONE noch die Pflegedienststellen die nötige Orientierung und den Rückhalt zu geben. Wohl wurden die Auswahlverfahren der Pflegschaftsdienste überarbeitet, nachdem in der Vergangenheit zum Beispiel homosexuelle Paare von Pflegschaften ausgeschlossen waren. Doch Informationsangebot, Berichtswesen und Intensität der Betreuung unterscheiden sich teils erheblich. Weil die meisten Platzierungen durch das Gericht erfolgen, ist zudem der Bewährungshilfedienst Scas häufig eingeschaltet. Eine Land-Anfrage zur Begleitung von Pflegekindern ist ad hoc nicht zu beantworten; die Leiterin ist im Urlaub. Psychologen und Juristen, die in Pflegschaftsverfahren als Gutachter oder Rechtsbeistand auftreten, bemängeln indes die schwankende Qualität der Berichte und dass der Akzent von Hausbesuchen eher auf sozioökonomischen Aspekten liege „statt auf die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, sowie auf kindbezogene Entwicklungsprognosen“.

Wichtigster Akteur ist die Jugendgerichtsbarkeit. Droht ein Kind Schaden zu nehmen, entscheidet sie, ob es aus der Familie herausgenommen und in einem Heim oder in einer Pflegefamilie untergebracht wird oder nicht. Aus dem provisorisch übertragenen Sorgerecht wird nicht selten ein Dauerzustand. Auch über eine Rückführung entscheiden die Jugendrichter souverän. Dabei wägen sie ab zwischen Kindswohl, dem Recht, in der Herkunftsfamilie aufzuwachsen sowie dem Recht der biologischen Eltern, ihr Kind selbst zu erziehen. Dafür müssen sie aktuelle und zukünftige Entwicklungen der Eltern als auch des Kindes einschätzen. Ob sie sich dabei nur auf die Gutachten von Scas, Pflegedienststelle und ONE stützen oder zusätzlich Psychologen oder Anwälte hören, entscheiden sie. Der Kinderrechtsbeauftragte verlangt seit Jahren verpflichtende Weiterbildungen für die Jugendjustiz. Der Pflegeelterndachverband und der Verband der Heimträger sähen den Einfluss der Justizbehörden lieber begrenzt sund fordern mehr Mitspracherecht für die außergerichtlichen Akteure.

Dass die Jugendschutzreform seit fast 30 Jahren nicht vorankommt, liegt an diesem schwelenden Dauerkonflikt. Eigentlich sollte das Kinderhilfegesetz die déjudiciarisation vorantreiben; nur schwere Fälle von Kindswohlgefährdung wären dann vor Gericht zu verhandeln, bei den anderen hätte das Jugendamt den Lead. Doch ein Artikel sieht weiterhin das Primat der Justiz bei Kindswohlgefährdungen vor, und die wird großzügig interpretiert. Justizministerin Sam Tanson hat mit Ex-Richterin und Ex-Leiterin des UN-Kinderrechtsausschusses Renate Winter eine anerkannte Kinderrechtsexpertin als Beraterin hinzugezogen, die mehrere Jugendschutzreformen vorangetrieben hat. In ersten Unterredungen sei das Problem der Pflegefamilien angesprochen worden, angehört werden sollen sie im September, wenn es um die Schutzaspekte gehen wird.

Für den kleinen F. kommt die Reform ohnehin zu spät. Seit einigen Wochen bereiten seine Ersatzeltern ihn und sein Geschwisterchen auf den bevorstehenden Abschied vor. „Was hier passiert, hat mit Kindeswohl nichts zu tun. Wir sehen die Folgen jeden Tag, die die Entscheidung auf den Kleinen hat“, so der Pflegevater verbittert; er spricht inzwischen von „institutioneller Gewalt“. Und wenn die Erziehung durch die biologische Mutter scheitert, weil sie der Aufgabe doch nicht gewachsen ist? „Ich weiß nicht, was dann geschieht. Ich muss auch mein Kind vor zu viel Erschütterung und Enttäuschung schützen“, sagt er resigniert.

Ines Kurschat
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