Carlo Thelen, vom Chefvolkswirt zum Direktor der Handelskammer

Pragmatiker

d'Lëtzebuerger Land vom 24.01.2014

Noch sieht es ein wenig spartanisch aus – völlig angekommen in seinem neuen Büro in der Chefetage der Handelskammer ist Carlo Thelen noch nicht. Am 10. Januar hat ihn die Plenarversammlung der Chambre de Commerce zum Nachfolger von Pierre Gramegna als Direktor bestimmt. Thelen, 42, hat in Löwen Wirtschaft studiert. Mit Ausnahme eines Praktikums bei der Fondation Alphonse Weicker hat er seine gesamte bisherige Karriere bei der Handelskammer absolviert, wo er in zwei Jahren sein 20-jähriges Dienstjubiläum feiert.

Sich selbst im ideologischen Spektrum der Volkswirtschaftslehre einzuordnen, fällt ihm schwer. Obwohl es die Makroökonomie ist, die ihn seit jeher interessiert, sowohl international gesehen, als auch mit Blick auf die Besonderheiten eines kleinen offenen Wirtschaftsraumes wie Luxemburg. Eine Thematik, mit der sich viele eminente Ökonomen auseinandergesetzt hätten, so Thelen. „Gaston Reinesch, Michel Wurth – Michel Wurth war mein Professor –, Paul Weber, Henri Ahlborn und Carlo Hemmer“, sagt er den Stammbaum der Luxemburger Volkswirte auf. Um seinen eigenen Platz darin zu beanspruchen? „Einige von ihnen waren ja auch Direktoren der Handelskammer“, fügt er hinzu.

Das Thema sei durch die Globalisierung nicht weniger interessant geworden, so Thelen, der sich als Anhänger einer bestimmten ökonomischen Denkschule weder einordnen kann noch will: „Es gibt so viele verschiedene Sichtweisen. Je nach Thema, denkt man: ‚Dem kannst du Recht geben’“, dann liest man jemand anderes und denkt: ‚Das ist es’.“ Die Welt sei so komplex geworden, sagt der Direktor der Handelskammer, da könne man sich nicht fixieren. „Das ist ein Fehler, den die Leute oft machen, sich ideologisch in einem Punkt so festzulegen. Denn tags drauf ist die Situation nicht mehr die gleiche und dann muss man doch Wasser in seinen Wein geben.“ Und: „Als Ökonom, der die Luxemburger Wirtschaft verstehen will, finde ich es gefährlich, sich links, rechts oder in der Mitte zu positionieren, als konservativ oder liberal.“ Er erläutert, was er meint: „Das Modell besagt, wenn man die Wirtschaft ankurbeln will, muss man den Leuten mehr Geld in die Tasche geben. Wenn man das an der Uni lernt, ist das nachzuvollziehen. Doch in Luxemburg stößt man damit schnell an seine Grenzen, weil es zu viele Lecks gibt und viel Kaufkraft exportiert wird.“ Und wenn die Binnennachfrage steige, müsse wieder mehr importiert werden, was wiederum schlecht für die Handelsbilanz sei, fährt er fort. Deswegen müsse die Luxemburger Wirtschaft eher über die Angebotsseite stimuliert werden als über die Nachfrage. Diese Sätze kommen Thelen intuitiv und automatisch über die Lippen und führen ohne Umweg schnurstracks zum Index: „Es ist ja richtig, dass unsere lokale Wirtschaft davon profitiert, wenn eine Indextranche ausbezahlt wird; der Einzelhandel, das Gaststättengewerbe. Aber man muss auch verstehen,dass uns das nicht die früheren Wachstumsraten zurückbringt und das nicht der Ursprung der Wachstumsraten von vier bis fünf Prozent war, die wir früher hatten.“ „Ich bin Pragmatiker“, sagt Thelen schließlich, „ich will die Probleme der Unternehmen verstehen.“ Damit ordnet er sich keiner Denkschule zu, dafür aber ganz selbstverständlich in die Reihe derjenigen ein, die ihre Lesart der Wirtschaftsstatistiken viel mehr als absolute Wahrheit, denn als Interpretation einer mathematischen Übung mit, je nach Ausgangsbasis und Methode, variablem Ausgang ansehen. Und die deshalb eine neo-liberale Sozial- und Wirtschaftspolitik als alternativlos ansehen, wenn der dem internationalen Wettbewerb ausgesetzte Produktionsstandort abgesichert werden soll.

Beispiele dafür hat die Handelskammer – auch unter ihrem bisherigen Chefvolkswirt – besonders seit Ausbruch der Wirtschaftskrise 2007 viele geliefert. Thelen und andere Handelskammervertreter referieren gerne darüber, dass das gesicherte Mindesteinkommen (RMG) zu hoch sei, und es deshalb zu wenig Anreize für Arbeitslose gebe, sich einen Job zu suchen. Beim Vergleich von RMG und Mindestlohn mag es so erscheinen, als sei es einfacher, das Mindesteinkommen zu kassieren, statt arbeiten zu gehen. Doch beim Blick auf die Adem-Zahlen – über 23 000 Personen ohne feste Anstellung; 2 700 Jobangebote – drängt sich der Verdacht auf, dass die große Mehrheit der Jobsuchenden nicht aus reiner Bequemlichkeit zu Hause bleibt, sondern weil es keine Jobs gibt. Die steigenden Arbeitslosenraten und die fehlende Dynamik auf dem Arbeitsmarkt machen natürlich auch den Arbeitgebern und ihrer Berufskammer Sorgen. Dennoch scheint ihr die Beschneidung des RMG als zweckmäßige Lösung.

Carlo Thelen selbst, immer auf der Suche nach „Pisten“ zur Sanierung des Staatshaushaltes, tritt neuerdings dafür ein, dass alle steuerpflichtigen Haushalte eine Mindeststeuer von zehn oder 20 Euro monatlich zahlen sollen. Denn dass 40 Prozent der Haushalte keine Steuern zahlen, liege nicht etwa daran, dass das Einkommen dieser Haushalte niedrig sei, sondern an den vielen Steuerabschlagsmöglichkeiten, die dazu führten, dass auch Besserverdiener keine Steuern zahlten. „Nein!“, antwortet er kategorisch auf die Frage, ob er damit vielleicht Absatz 111 bis der Steuerverordnung meine, nach der private Zusatzrentenversicherungsbeiträge von der Steuer abgesetzt werden können. „Wir können uns nicht erlauben, Produkte anzugreifen, auf die der Finanzplatz aufbaut.“ Er hat andere Absatzmöglichkeiten im Visier, die, wie er sagt, „inkohärent“ seien und gegensätzliche politische Ziele verfolgten, wie in der Wohn- oder der Familienpolitik. Gegen die Mindeststeuer für Unternehmen hatte die Handelskammer „starkes Lobbying“ gemacht, mit mäßigem Erfolg, wie er einräumt. „Das wollen wir ja nicht“, antwortet Thelen irritiert auf den Hinweis, dass das Haushaltsdefizit auch über Steuererhöhungen ausgeglichen werden könnte. „Am liebsten würden wir Steuererhöhungen insgesamt vermeiden.“ Doch wenn schon, dann sollen doch lieber die Privathaushalte zur Kasse gebeten werden als die Unternehmen. Unter der der Federführung von Carlo Thelen hatte die Handelskammer in ihrem jüngsten Actualité et tendances unter anderen Beschneidungen der Sozialtransfers vorgeschlagen, das Kindergeld zu besteuern, um es „sozial selektiv“ zu gestalten. Der Vorstoß der neuen Familienministerin Corinne Cahen (DP), das Kindergeld nicht nach Anzahl der Kinder zu staffeln, sondern für jedes Kind den gleichen Betrag auszuzahlen, wird seiner Ansicht nach nicht ausreichen, um bedeutenden Beträge bei den Sozialtransfers einzusparen. „Im Moment werden Pisten analysiert, ich glaube nicht, dass die neue Regierung schon ein Konzept hat“, sagt Thelen, „sie ist ja erst 50 Tage im Amt. Da müssen wir noch 50 Tage warten.“ Als Vater von drei Jungen sehe er privat nicht, warum ein zweites oder drittes Kind das Familieneinkommen proportional mehr belasten soll. „Da kann man doch Synergien bei den Kleidern suchen. Oder bei den Möbeln“, überlegt er, obwohl ihn die Erfahrung gelehrt hat, dass Jungen ihre Hosen schneller zerreißen als Mädchen.

Die Arbeiten der neuen Regierung, deren Finanzminister Pierre Gramegna (DP) Ex-Direktor der Handelskammer ist, will die Chambre de Commerce unter Carlo Thelen ebenso konstruktiv und kritisch begleiten wie die der Vorgängerregierungen. Dass sich der Ton in den letzten Jahren verschärft hatte, führt Thelen nicht etwa darauf zurück, dass die Handelskammer einer Partei näher stehe als einer anderen – er selbst „schwört“, nie Mitglied irgendeiner Partei gewesen zu sein –, sondern auf den vorherrschenden „Reformstau“. „Die Leute mussten doch aufwachen.“ Auch deshalb habe die Handelskammer das Projekt 2030.lu unterstützt. „Ein Zukunftsprojekt“, sagt Thelen, das großen Anklang gefunden habe. Wieviel sich die Handelskammer ihre logistische Unterstützung dieses zeitlich auf die Wahlkampagne abgestimmten Weckrufs hat kosten lassen, könne er nicht sagen, weil es dafür kein separates Budget gegeben habe. Zufrieden dürfte Thelen nicht nur mit dem Publikumsanklang sein, sondern auch, weil die neue Regierung den Handelskammerslogan „Mit weniger mehr machen“ in ihr Standardvokabular übernommen hat.

Bei so viel Gerede von sozialer Selektivität stellt sich die Frage, welche Vorstellung Carlo Thelen vom Luxemburger Sozialmodell hat und welche Rolle darin dem Staat zukommt. „Das Luxemburger Sozialmodell heißt, immer eine Lösung zu finden“, zitiert er seinen Amtsvorgänger Pierre Gramegna. „Die Essenz des Luxemburger Sozialmodells bestand bisher darin, dass alle verstanden haben, dass wir zu klein sind, um gegeneinander zu arbeiten, und deshalb zusammenarbeiten müssen. Der Staat spielt dabei auch die Rolle des Schiedsrichters. Wenn sich die Sozialpartner nicht einigen können, muss der Staat Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen.“ An die Umverteilungsrolle des Staates muss Thelen erst erinnert werden. „Es ist ganz klar, dass der Staat eine Umverteilungsrolle hat“, sagt er daraufhin und fügt schnell hinzu: „Aber er kann nur verteilen, was er einnimmt.“ Um die Einnahmen hoch zu halten, müsse ein Umfeld geschaffen werden, durch das internationale Unternehmen angelockt werden könnten, – „das war bisher immer unser Business-Modell“. Vom Sozial- zum Geschäftsmodell ist es gedanklich nicht weit.

Große Veränderungen – auch im Umgang mit den Sozialpartnern – sind unter seiner Führung nicht zu erwarten. Er ist, wie andere Arbeitgebervertreter, davon überzeugt, dass die Zusammenarbeit in den partnerschaftlichen Gremien wie Tripartite, Wirtschafts- und Sozialrat oder Gesundheitskassenquadripartite nicht etwa zum Erliegen gekommen ist, weil die Arbeitgeber eine Politik des leeren Stuhles betrieben hätten. Denn diese Politik des leeren Stuhls hätten die Arbeitnehmervertreter provoziert, indem sie sich geweigert hätten, „Fakten“ – Thelen meint damit die wirtschaftliche Analyse der Arbeitgeberseite – anzuerkennen, und bestimmte Themen aus der Diskussion ausgeschlossen hätten. „Dann haben wir auch noch andere Probleme für unsere Mitglieder zu lösen, statt herumzusitzen und gegen eine Wand anzureden.“

Die Mitglieder der Handelskammer, sagt Carlo Thelen, seien sehr zufrieden mit den Leistungen der Handelskammer. Meuterei gebe es, abgesehen von einzelnen Finanzbeteiligungsgesellschaften (Soparfi), die noch vor Gericht gegen die Beitragspflicht vorgehen, nicht. Wie stark die Interaktion mit den Mitgliedern ist, welcher Prozentsatz der über 55 000 Firmen, die per Gesetz Mitglieder der Handelskammer sind, sich aktiv an den Veranstaltungen beteiligt, statt sich nur das Kammerblatt Merkur zuschicken zu lassen, kann er nicht mit Bestimmtheit sagen. Er „schätzt“ beispielsweise, dass von den 2 500 bis 3 000 Luxemburger Firmen, die Dienstleistungen oder Waren exportieren, ein Viertel bis die Hälfte aktiv auf die Initiativen zur Exportförderung der internationalen Abteilung der Chambre de Commerce reagieren. „Wir haben einen treuen Kundenstock“, der regelmäßig interagiere. Diesen Kundenstock zu vergrößern, ist eines der Ziele, die sich Thelen als Direktor gesetzt hat. „Ich werde verstärkt in die Unternehmen gehen, sie vor Ort besuchen, um ihre Probleme und ihre Erwartungen an uns besser zu verstehen“, kündigt er an. „Dazu reicht es nicht, auf Empfängen oder am Rande von Konferenzen mit den Unternehmern zu reden.“ „Natürlich haben wir das auch jetzt schon gemacht“, fügter schnell hinzu, damit diese Aussage ja nicht als Hinweis auf eventuelle Versäumnisse seines Vorgängers interpretiert werden kann. „Aber ich will dies verstärken.“

Verstärken will Thelen außerdem die „bereits gute“ Zusammenarbeit mit den anderen Arbeitgeberverbänden sowie der Handwerkskammer.Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP), dem es bei der Bildung der neuen rot-blau- grünen Regierungskoalition endlich gelungen ist, die alte Forderung seines Amtsvorgängers Jeannot Krecké nach Zusammenlegung von Wirtschafts- und Mittelstandsministerium durchzusetzen, hatte vergangenen Dezember im Land, gemeint, er denke über eine Fusion von Handels- und Handwerkskammer nach. Dies sei keine Forderung der Handelskammer, unterstreicht Thelen. Aber die logische und kohärente Folge der Ministeriumsfusion, die von der Handelskammer durchaus gefordert worden war. Thelen sieht Synergiemöglichkeiten zwischen beiden Kammern. Allein die Handelskammer beschäftigt 105 Vollzeitkräfte, hat sich unter der laut Thelen „dynamischen“ Leitung von Pierre Gramegna stark vergrößert und schloss 2012 laut Jahresbericht mit einem Umsatz von 40 Millionen Euro und einem „operativen“ Ergebnis von zwölf Millionen Euro ab. Nach Luxemburger Standards wäre die Handelskammer damit ein mittleres bis großes Unternehmen. Um es zu leiten, wird Carlo Thelen nicht nur Wirtschaftskenntnisse brauchen, sondern auch Managerqualitäten. Besonders wenn Schneider seine Idee zur Kammerfusion weiterverfolgt, die bei den Handwerkern auf Widerstand stößt.

Michèle Sinner
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