Binge watching

Das verlorene Paradies

d'Lëtzebuerger Land du 24.07.2020

„The middle class is evaporating? Or the American Dream is dead?” Mit diesem Voice-Over-Kommentar führt die Stimme von Marty Byrde (Jason Bateman) uns in die Welt von Ozark: Es ist dieser Byrde, ein unscheinbarer Finanzberater aus Chicago, der für einen mexikanischen Drogenbaron Geld wäscht. Dafür verlässt er mit seiner Frau Wendy (Laura Linney) und den beiden Kindern Charlotte und Jonah die Großstadt, um sich beim Ozarks-See niederzulassen, einem beliebten Ferienort in Missouri. Doch der Ortswechsel erweist sich als wenig als hilfreich oder gar befreiend, die Probleme häufen sich ...

In seiner Grundstruktur erinnert Ozark selbstverständlich an Breaking Bad (2008-2013): Aus dem blassen, gutbürgerlichen Familienvater wird nach und nach ein kriminelles Mastermind: Die Serie schildert, wie ein Mensch in die kriminelle Mühle gerät, denn ein beseitigtes Problem schafft alsbald zwei neue, und wie er ganz schnell aufsteigen kann, hat man ihn erst als profitablen Partner aufgebaut. Am Glauben an die amerikanische Familie als heilende Kraft und Mittelschichtidyll hält Ozark zwar fest, aber mit einer nahezu perversen Unterwanderung. Ein totes Berufs- und Privatleben – der monotone Job lässt Marty abstumpfen, die Frau betrügt ihn – wird plötzlich durch die kriminellen Machenschaften revitalisiert.

Jason Bateman gibt diesen Finanzberater und Familienvater als einen fast leeren Menschen. Seine ruhige Körperhaltung und scheinbare Emotionslosigkeit lassen kaum Sympathie zu, eher muss man das Ganze aus der Distanz beobachten. Die von Bill Dubuque und Mark Williams konzipierte Serie lässt durchaus offen, inwiefern sie den Werte- und Identitätsverfall der amerikanischen Familie anklagt oder die Familie ganz im Sinne des kommerziellen amerikanischen Mainstream-Kinos gleichsam ex negativo als das große Glück bestätigt. Für Marty Byrde geht das Abenteuer insofern gut aus, als er allmählich bereit ist, die Verantwortung für sein Familien- und (kriminelles) Arbeitsleben wieder zu übernehmen. Dennoch: Es bleibt wohl schwer zu sagen, wie sehr er sich von seinen verbrecherischen Vorgesetzten bereits infiziert hat. Nicht zuletzt legt Ozark eine besondere Aufmerksamkeit auf Charaktermomente und versucht die Umstände und seelischen Probleme zu durchleuchten, die die Menschen dazu treiben, die moralischen Grenzen zu überschreiten. Minutenlang kann die Kamera dabei auf den Gesichtern der Schauspieler verharren, bis wir darin zu lesen beginnen. Denn letztlich sind all diese Figuren verwoben in einem Netz aus Lügen und Verständigungsproblemen, sodass der bürgerlichen Existenz nur noch der Boden unter den Füßen weggezogen werden kann. Wenn dann der eigene Sohn mit dem Schießgewehr im Wohnzimmer steht, findet dieses Kommunikationsdefizit seinen stärksten Ausdruck.

Die nur äußerlich-paradiesischen Landschaftsbilder der Ozarks sind gleichsam der symptomatische Ort für die Spaltung der amerikanischen Bevölkerungsschichten. Abseits der rein handlungsbezogenen Oberfläche bildet die 2017 auf Netflix gestartete Serie eher beiläufig die Verschiebung urbaner und ruraler Zentren ab und reflektiert so die tiefe Krise Amerikas, dass die Diskrepanz zwischen den städtischen Eliten und der ländlichen Unterschicht ihrerseits zu Verständigungsproblemen und leichtfertigen Vorurteilen führen kann. Und damit bekommen Martys Eingangssätze einen bitteren Beigeschmack; das Paradies existiert allenfalls noch als Postkarte.

Aber es bleibt am Ende die Frage durchaus offen, wie sehr sich auch die ganz normalen Menschen in teuflische Gewalttäter verwandeln können, wenn der psychische Druck groß genug ist. Das freilich ist eine Frage, die jenseits von Ozark in der Tiefe der menschlichen Psyche liegt. Marc Trappendreher

Marc Trappendreher
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