d’Land: In Sachsen und Thüringen haben mehr als 30 Prozent der Wähler/innen letzten Sonntag für die AFD gestimmt. Wie erklären Sie dieses Wahlergebnis?
Anna-Sophie Heinze: Die AFD ist in Ostdeutschland schon seit Jahren besonders stark, und einer der zentralen Gründe dafür ist, dass die anderen Parteien dort so schwach sind. Die traditionellen Parteien CDU und SPD verlieren in ganz Deutschland an Vertrauen, Mitgliedern und Stammwähler/innen. In Ostdeutschland sinken diese Zahlen aber noch einmal von einem viel niedrigeren Niveau als in Westdeutschland, was auch mit der Transformation seit 1989 zu tun hat. Da kommt die AFD nun ins Spiel, indem sie existierende Unsicherheiten aufgreift und Ängste weiter schürt, die viele Wähler/innen haben – auch die jungen. Dazu gehört auch, aber nicht nur, die Unzufriedenheit mit der amtierenden Bundesregierung. Es ist also eine Gemengelage, in der die AFD gut punktet.
Wir lesen oft, Parteien wie die AFD seien populistisch. Trifft das zu?
Die Bezeichnung rechtpopulistisch verharmlost die AFD. Der Fokus liegt dann nämlich auf dem Populismus – also der Vorstellung, dass es ein ethnisch homogenes Volk gäbe, dessen Interessen von den vermeintlich korrupten Eliten nicht ertreten würden. Diese Idee des Populismus greift aber nicht weit genug, weil der Gegensatz „Volk versus Elite“ zu unterkomplex ist. Was die AFD rechtsradikal macht, ist insbesondere ihr Nativismus, das heißt die Vorstellung, dass Deutschland vor allem von „den Deutschen“ bewohnt werden sollte, und nicht-einheimische Personen oder Ideen eine Gefahr für den homogenen Nationalstaat darstellen. Im Vergleich zum Rechtsextremismus ist das noch nicht zwangsläufig antidemokratisch, aber in jedem Fall illiberal. Beim Extremismus kommen dann klassische Positionen dazu wie Rassismus, Antisemitismus oder die Verharmlosung der NS-Verbrechen.
Sie benutzen den Begriff Rechtsaußen, was versteht man darunter?
Der Sammelbegriff Rechtsaußen bündelt Populismus, Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus. Parteien wie die AFD greifen all diese Strömungen strategisch auf. So nutzen sie keineswegs immer nur rechtsextreme Parolen, sondern sagen manchmal sogar harmlose Sachen, um sich stärker in den Mainstream zu bewegen und als normale Partei wahrgenommen zu werden. Man arbeitet mit waschechten Nazis, aber auch mit moderateren Kräften zusammen, und kann dann immer wieder darauf verweisen: „Hier sind doch gar nicht alle rechtsextrem.“
Auch in anderen europäischen Ländern gewinnen Rechtsaußenparteien an Wählerschaft. Beobachten wir einen allgemeinen Rechtsruck in Europa?
Ich mag den Begriff des Rechtsrucks nicht besonders, denn er impliziert einen Moment, an dem plötzlich alles nach rechts kippt. Das trifft es nicht wirklich. Was wir eher sehen – in allen europäischen Ländern und auch darüber hinaus –, ist eine kontinuierliche Etablierung und Normalisierung von Rechtsaußenparteien im Parteiwettbewerb. Teilweise verlieren sie aber auch wieder an Zustimmung.
In Luxemburg blieb das Wachstum der rechtsgerichteten ADR bislang vergleichsweise gering. Würden Sie sagen, dass Luxemburg im Vergleich zu anderen Ländern eine Ausnahme ist?
Mit knapp zehn Prozent der Stimmen ist die ADR die viertstärkste Kraft im Parlament – auch die AFD ist auf Bundesebene nicht wesentlich stärker vertreten. Dennoch unterscheidet sich Luxemburg natürlich in vielerlei Hinsicht von anderen Ländern. Im Gegensatz zu Deutschland sind die Gesellschaft und der Arbeitsmarkt viel stärker von Multikulturalismus geprägt. Deswegen kann die ADR nicht so sehr wie in anderen Ländern gegen Zuwanderung mobilisieren. Stattdessen rückt sie andere Themen in den Vordergrund, etwa die außereuropäische Migration oder den Schutz der luxemburgischen Sprache.
In Thüringen und Sachsen war die AFD bei jungen Wähler/innen besonders beliebt. Wächst bei jungen Menschen die Zustimmung zu Rechtsaußenparteien, und wenn ja, warum?
Es stimmt: In beiden Ländern ist die AFD mit Abstand die beliebteste Partei bei den 18- bis 25-Jährigen, mit jeweils 38 Prozent beziehungsweise 31 Prozent der Stimmen. Das lässt sich auf verschiedene Dinge zurückführen, etwa auf die politische Sozialisation. Wenn ich als junger Mensch noch keine feste Parteibindung habe, bin ich viel flexibler und überlege immer wieder neu, wen ich wählen könnte. Dabei spielt auch das eigene soziale Umfeld eine große Rolle, zum Beispiel, wenn meine Freund/innen oder meine Familie die AFD als normale Partei ansehen. Außerdem ist die AFD in den sozialen Medien sehr aktiv. Sie hat dort teilweise die höchste Reichweite aller Parteien, beispielsweise auf TikTok. Weil junge Menschen erreichbar sind, wird die Plattform sehr stark von der AFD genutzt. Wenn ein junger Mensch seinen TikTok-Account aufmacht und nur AFD-Accounts und AFD-Positionen sieht, wird er sich grundsätzlich erst einmal eher mit dieser Partei als mit anderen beschäftigen. Die so aufgenommenen Themen und Positionen können dann auch seine Wahrnehmung der Realität beeinflussen.
Macht die AFD neben sozialen Medien noch außerparlamentarische Opposition?
Ja, natürlich – das ist wahnsinnig wichtig für ihre Mobilisierung. Beispielsweise arbeitet die AFD schon immer mit sozialen Bewegungen zusammen. Seit 2014 war das etwa Pegida, die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ in Dresden. Dazu kommen verschiedene Thinktanks wie das Institut für Staatspolitik um Götz Kubitschek. Daneben ist die AFD sehr aktiv im Online-Bereich – in den üblichen sozialen Medien, aber auch auf eigenen Kanälen, sei es Telegram oder AFD TV. Mit der Jungen Alternative (JA) besitzt die AFD eine Jugendorganisation, die nicht zu unterschätzen ist. Das sind junge, überzeugte Aktivist/innen, die für die AFD Wahlkampf machen, junge Mitglieder rekrutieren und Rechtsaußenpositionen weiterverbreiten. Der Verfassungsschutz hat die JA im Übrigen 2023 als „gesichert rechtsextreme“ Organisation eingestuft und überwacht sie.
Was macht die AFD auf der parlamentarischen Ebene anders als andere Oppositionsparteien, wie etwa die Linke?
Prinzipiell nutzt die AFD das Parlament viel stärker als „Bühne“. Natürlich ist es die Aufgabe einer jeden Oppositionspartei, die Regierung zu kritisieren und zu kontrollieren. Im Vergleich zur Linken stellt die AFD aber besonders viele Anträge und Anfragen, teilweise auch in Wiederholung und eigentlich immer provozierend. Sie inszeniert sich so als aktivste und einzige wahre Opposition. Linke Parteien befinden sich in vielen europäischen Ländern in der Krise. Vielerorts verlieren sie an Stammwähler/innen und sind im Hinblick auf kulturelle Themen gespalten. In Deutschland gibt es seit Anfang des Jahres das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), in dem sozioökonomisch linke Positionen, zum Beispiel für mehr Umverteilung, auf soziokulturell rechte Positionen treffen, zum Beispiel für weniger Migration. Diese Fragmentierung schadet der Linken viel mehr als Parteien wie die AFD.
Die traditionellen Parteien beteuern, nicht mit der AFD zusammenarbeiten zu wollen. Könnte diese Brandmauer nicht dazu führen, dass die AFD noch stärker wird?
Das zentrale Ziel ist es, den Einfluss von Rechtsaußenparteien und -positionen zu minimieren – und das lässt sich nur durch die Brandmauer erreichen. Würde man die AFD einbeziehen, würde ihre Normalisierung weiter voranschreiten, so wie wir es etwa in Österreich, den Niederlanden oder den nordeuropäischen Ländern beobachten. Warum Menschen die AFD wählen, steht hingegen auf einem anderen Blatt. Das hat nicht nur mit der Brandmauer zu tun, sondern zum Beispiel auch mit den eigenen politischen Einstellungen und Positionen. Für die anderen Parteien wird es schwer, überzeugte AFD-Wähler/innen zurückzugewinnen.
Warum wird die Linke in den letzten Jahren in strukturschwächeren Regionen wie Ostdeutschland oder auch in der Moselle in Frankreich von Rechtsaußenparteien überholt?
Die real existierende Strukturschwäche dieser Regionen ist ein wichtiger Faktor. Zum Beispiel verdienen Ostdeutsche bis heute weniger als Westdeutsche. Es gibt im Osten weniger Vermögen, weniger Erben, weniger Immobilienbesitz. Diese Strukturschwäche führt dazu, dass Unsicherheiten und Krisenerfahrungen dort anders wirken als in prosperierenden Regionen. In den letzten Jahren haben wir eine Corona-Pandemie erlebt, starke Inflation, anhaltende Kriege. All das steigert die Unsicherheit der Wähler/innen, ihren Lebensstandard vielleicht nicht mehr halten zu können. In der Wissenschaft spricht man von relativer Deprivation. Dabei geht es weniger um die tatsächliche monetäre Situation, sondern um das subjektive Gefühl, dass sich an dieser Situation etwas ändern könnte. Man könnte zum Beispiel Angst davor haben, seinen Job zu verlieren, weil man im Niedriglohnsektor arbeitet und sich vor einer stärkeren Konkurrenz durch Migration fürchtet. Ob dieses Gefühl mit der Realität übereinstimmt, ist dabei zweitrangig.
In Migrationsthemen übernehmen inzwischen viele traditionelle Parteien Rechtsaußenpositionen, um Wähler/innen zurückzugewinnen. Ist das eine kluge Strategie?
Nein, langfristig ist sie das nicht. Studien zeigen, dass man damit kaum Wähler/innen zurückgewinnt. Stattdessen werden Rechtsaußenposition weiter normalisiert und legitimiert. Nehmen wir das Beispiel Solingen. Die AFD redet permanent davon, man müsse mehr abschieben. Wenn ich als AFD-Wählerin nach dem Attentat auf einmal die anderen Parteien, denen ich sowieso nicht vertraue, auch über mehr Abschiebungen sprechen höre, werde ich nicht auf einmal diese Parteien wählen. Stattdessen fühle ich mich in dem, was die AFD schon seit Jahren erzählt, bestärkt und wähle dann erst recht das Original.
Was sind neben Migration noch Themen, die Rechtsaußenparteien strategisch für sich nutzen?
Statt von sozioökonomischen Themen profitieren Rechtsaußenparteien vor allem von soziokulturellen Themen – also zum Beispiel Fragen von Migration, Kultur, Gender oder generell unserer Lebensweise. Wenn sich Rechtsaußenparteien also irgendein Aufhänger bietet, solche soziokulturellen Themen aufzugreifen, werden sie das auch tun. Die Opfer ihrer Mobilisierung sind dann häufig kulturelle, sexuelle oder religiöse Minderheiten. Aber auch andere Themen wie Klima werden stark mobilisiert und kommen bei den Wähler/innen gut an. Das bezieht sich nicht nur auf die Kritik an den Grünen, die nun aus dem Thüringer Landtag geflogen sind, sondern auch auf die Kritik an den Klimaschutzmaßnahmen, etwa dem Bau von Windrädern. Mit Blick auf die Parteien, die nun noch im Thüringer Landtag sitzen, ist kaum davon auszugehen, dass dort in den nächsten Jahren Klimaschutzmaßnahmen weiter vorangetrieben werden. Das ist ein riesiges Thema in Ostdeutschland, wo die Transformation des Energiesektors in vollem Gang ist, etwa mit dem Ende des früheren Braunkohleabbaus. Dort stellen sich viele Menschen die Frage: Wie soll es nun weitergehen? Und wer soll das alles finanzieren?
Wie steht es denn um die Skandale bei der AFD? Bringen sie Menschen davon ab, Rechtsaußen zu wählen?
Die AFD hat sich mittlerweile eine große Stammwählerschaft aufgebaut, der solche Skandale tatsächlich ziemlich egal sind. Umfragen zeigen immer wieder, dass ungefähr 80 Prozent ihrer Unterstützer/innen sagen: „Es ist mir egal, dass die AFD in Teilen rechtsextrem ist, solange sie die richtigen Themen anspricht.“ Das gibt der AFD einen sehr großen Rahmen für Provokationen, Tabubrüche und auch wirklich krasse Relativierungen, etwa im Hinblick auf den Nationalsozialismus, die hingenommen werden.Was schlechter ankam war zum Beispiel der Skandal des AFD-Spitzenkandidaten zu den Europawahlen, Maximilian Krah. Seinem Mitarbeiter wurde Spionage für China – und somit Landesverrat – vorgeworfen. Zusammen mit den bundesweiten Massendemonstrationen gegen Rechtsextremismus, die es Anfang dieses Jahres gab, führte das dazu, dass die AFD bei den Europawahlen nicht so gut abschnitt, wie die Umfragen einige Monate zuvor hatten erwarten lassen.
Der Vertrauensverlust in die traditionellen Parteien scheint dennoch tief zu sitzen. Wird sich dieses Misstrauen weiter auf die Demokratie übertragen?
In Deutschland bestätigen Meinungsumfragen immer wieder, dass ungefähr 90 Prozent der Deutschen die Demokratie als die beste Staatsform ansehen – daran gibt es also relativ wenig Zweifel. Wenn man aber fragt, wie zufrieden sie mit dem Funktionieren der Demokratie sind, bricht der Wert extrem ein. Insgesamt sind viel mehr Menschen unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie als es AFD-Wähler/innen gibt. Sie haben das Gefühl, dass ihre Interessen und Bedürfnisse nicht ausreichend von der Politik gehört werden. Auch darüber hinaus ist die Zufriedenheit mit der aktuellen Bundesregierung sehr niedrig.Die AFD greift diese Gefühle und Ängste auf und befeuert sie sogar weiter. Wenn man sich ihre Social Media Posts lange genug anschaut, könnte man denken, Deutschland stünde kurz vor dem Untergang – es wäre schon eine halbe Diktatur, es gäbe keine Meinungsfreiheit mehr und die Migration sei natürlich eine Ursache des Übels.
Wie können traditionelle Parteien dieses Vertrauen wieder aufbauen?
Dafür gibt es verschiedene Strategien. Zum einen hilft sicherlich gutes Regieren und gute Kommunikation – zu zeigen, dass es unter Koalitionspartnern zwar unterschiedliche Positionen gibt, man in der gemeinsamen Regierung jedoch Kompromisse bilden kann und muss. Zu viel Streit und Unklarheit schadet dem Vertrauen einer jeden Regierung. Aber auch über die Regierungen hinaus müssen die Parteien den Kontakt zu den Bürger/innen pflegen und ihre lokale Verankerung stärken. Das gelingt der AFD relativ gut. Auf der lokalen Ebene nutzt sie zum Beispiel Bürgersprechstunden oder Familienfeste, um Kontakt zu Menschen vor Ort aufzunehmen, ihnen zuzuhören und ihnen das Gefühl zu geben, dass ihre Interessen und Bedürfnisse ernstgenommen werden.
Zur Person
Anna-Sophie Heinze ist Akademische Rätin am Lehrstuhl für Westliche Regierungssysteme der Universität Trier. In ihrer Forschung und Lehre befasst sie sich unter anderem mit Populismus, der radikalen und extremen Rechten, politischen Parteien und Partizipation. Als Leiterin des Forschungsprojekts Nurture Demos untersucht sie den wachsenden Einfluss von Rechtsaußenparteien auf junge und Erstwähler/innen.