Ärztegesellschaften und Ärztezentren verheißen mehr Angebot. Aber auch eine Versorgung mit Konkurrenz und Preisprinzip

Die neuen Freiheiten

IRM-Apparat in einem Luxemburger Spital
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 30.04.2021

Mehr als 20 Jahre lang bestand in Luxemburg ein Konsens in der Gesundheits- und Sozialpolitik: Das Gesundheitswesen müsse solidarisch sein und jedem, unabhängig vom Einkommen, einen gleichberechtigten Zugang zu optimalen Leistungen gewähren. Deshalb ist die Beitragszahlung in die Krankenversicherung Pflicht. Andererseits wurden auch die Dienstleister obligatorisch und automatisch an die Kasse gebunden. Dass ein paralleler Markt entstehen konnte, auf dem das Angebot besser wäre als das öffentliche, war damit ausgeschlossen.

Um zu verhindern, dass die Kosten für den service public an der öffentlichen Gesundheit aus dem Ruder laufen, nahmen die wechselnden Regierungen es nicht nur hin, dass hierzulande die Krankenhäuser eine große Rolle in der Versorgung spielen, sondern förderten das, indem sie Zusammenschlüsse, Synergien und Kompetenzbündelung der Kliniken verlangten: Der Spitalsektor ist stark kontrolliert. Jedes Krankenhaus muss mit der CNS ein Budget aushandeln. Seit der Gesundheitsreform von 2010 legt der Regierungsrat obendrein alle zwei Jahre mit einem „Globalbudget“ einen Deckel auf die Klinikausgaben der CNS. Außerdem wird das Klinikangebot staatlich geplant.

Seit der Ärzteverband AMMD im Wahljahr 2018 dafür zu werben begann, „leichtere“ Aktivitäten der Spitäler in Ärztezentren auszulagern, steht der alte Konsens politisch infrage. Ginge es nach der AMMD, sollten am besten Ärztegesellschaften die außerklinischen Ärztezentren betreiben. Damit entstünde ein veritabler secteur extrahospitalier, in dem nicht nur Radiologie-Analysen in solchen Zentren vorgenommen würden, sondern auch kleinere Operationen.

Gemeinsam mit dem Collège médical, dem Selbstkontrollorgan der Ärzt/innen, und einer Anwaltskanzlei hat die AMMD für LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert in einem Text für einen Gesetzes-Vorentwurf aufgeschrieben, wie der „exercice en société“ des Arztberufs geregelt werden könnte. Dieser Text, sagt Pit Buchler, Präsident des Collège médical, liege schon seit vergangenem Jahr im Ministerium; mit ihm werde nun gearbeitet. Ministerin Lenert „scheint unseren Weg mitgehen zu wollen“.

Man kann diesen Weg als Fortsezung einer Entwicklung sehen, die schon besteht. In Luxemburg wird die Medizin überwiegend freiberuflich praktiziert. Auch das Gros der Klinikärzte ist frei und über contrats d’agrément Dienstleister in den Spitälern. Zusammenschlüsse sind Ärzt/innen bislang nur in Form von „Assoziationen“ erlaubt. Ärzt/innen derselben Fachrichtung dürfen in solchen Zusammenschlüssen nicht nur die Kosten für Praxisbetrieb und Personal vergemeinschaften, sondern auch ihre Honorareinnahmen. Relativ neu ist, dass auch Mediziner/innen unterschiedlicher Spezialisierung sich zusammentun können. Es wurde möglich, nachdem der Collège médical die Regeln im ärztlichen Deontologiekodex gelockert hatte. Allerdings dürfen in „associations sans partage des honoraires“ nur die Kosten geteilt werden.

Letztere Konstellation ist eine Art Vorstufe zu Ärztezentren: Assoziationen mit Kostenteilung gibt es immer mehr – zwischen Allgemeinmediziner/innen und Internist/innen, aber auch noch spezialisierteren Ärzt/innen. Dass dann ein Hausarzt einen Patienten mit spezifischen Problemen bevorzugt an eine Spezialistin in der Assoziation verweisen würde, hielt der Collège médical lange für unlauter und gestattete solche Verbünde deshalb nicht. Das ist nun anders. Überdies nimmt die Zahl von Großpraxen zu, in denen sich viele Angehörige eines Fachs zusammentun, Zahnärzt/innen etwa: „Oft stellt ein Immobilieninvestor in einem Gebäude Praxisräume zur Verfügung“, sagt Roger Heftrich, der Generalsekretär des Collège médical. „Entweder werden die Räume stundenweise vermietet, oder die Ärzte treten einen Teil ihres Honorars an den Investor ab.“ Letzteres sei zwar „nicht erlaubt, wird aber gemacht“. Dass Großpraxen für sich werben, sei eigentlich ebenfalls nicht gestattet. „Doch dann kann es sein, der Investor tritt auf und sagt, das ist mein Projekt, was geht mich der Collège médical an?“

Weil in der EU für die Gesundheitsversorgung weitreichende Marktfreiheit gilt, muss jeder Mitgliedstaat gesetzlich regeln, wo die Grenzen dafür liegen sollen. Die sich auch in Luxemburg ausbreitende Freiheit wirft damit vor allem politische Fragen auf. Der Collège médical ist mit der AMMD der Ansicht, dass ein regelrechter außerklinischer Sektor, in dem Ärztegesellschaften Zentren betrieben, dem Land diene. Ein „Paradigmenwechsel“ wäre das freilich, sagt Pit Buchler: In den Personalgesellschaften würden Ärzt/innen, die sie gründen, Teilhaber. Die Gesellschaften könnten andere Ärzt/innen einstellen. Das, glaubt Buchler, käme jungen Ärzt/innen entgegen, die aus dem Ausland hierher wechseln: „Sie kommen oft aus einem Angestelltenverhältnis, scheuen entweder die Freiberuflichkeit oder die Investitionen in Praxen.“ Gleichzeitig seien die Ansprüche an die Work-Life-Balance andere geworden: „So manche Ärzte arbeiten lieber Teilzeit.“ Dass es etablierte Ärzt/innen gibt, denen die Aussicht auf multidisziplinäre Zentren nicht gefällt, weiß der Collège. Allgemeinmediziner/innen etwa fürchten, Zentren mit mehreren Spezialisierungen und obendrein Analysetechnik im Angebot könnten ihnen Patient/innen abspenstig machen. Das werde „nicht zu vermeiden“ sein, sagt Generalsekretär Heftrich. Präsident Buchler fügt an, „der Hausarzt als Einzelkämpfer wird verschwinden“. Im Gegenzug könnten die Zentren die Primärversorgung über Land stärken. Würden sie vernetzt, könnten „vielleicht die Maisons médicales abgeschafft werden“. Und die Spitäler könnten statt mit einzelnen Ärzt/innen mit den Gesellschaften Dienstleisterverträge abschließen.

Ob angesichts der schon bestehenden Ärzteknappheit die neue Freiheit nicht dazu führen würde, dass viele Ärzt/innen es vorzögen, gar nicht in Kliniken zu arbeiten – diese Frage kann der Collège médical freilich nicht abschließend beantworten. „Schwierig“ und noch nicht ausdiskutiert sei auch das Konzept der Ärztegesellschaften im EU-Kontext, sagt Pit Buchler: Dass dafür nur Personalgesellschaften von Ärzt/innen infrage kommen sollen, aber keine Kapitalgesellschaften, soll ausländische Klinikunternehmen vom Einstieg in hiesige Mini-Kliniken abhalten. Wahrscheinlich aber bedürfte es nur einer Wettbewerbsklage in Brüssel, um diese Beschränkung zu knacken. Und vor einem Monat hat mit der Trägerstiftung der Hôpitaux Robert Schuman ein Finanzier von hier vorgemacht, wie durch Absprache mit dem Schöffenrat der Gemeinde Junglinster über eine lokale Poliklinik die Ideen der AMMD, das System zu ändern, ohne es zu ändern, sich als illusorisch erweisen: Seither sieht es eher so aus, als könnte die Versorgung „richtig liberalisiert“ werden. Dass sich die Zahl der Ärztezentren regulatorisch limitieren ließe, hält der Collège médical nicht für sicher: „Immerhin besteht Niederlassungsfreiheit“, sagt Pit Buchler.

So dass, wenn der Konsens aufgehoben wird, den Spitälern eine herausragende Rolle in der Versorgung zu geben, sich die Frage anschließt, wer die neue Freiheit finanziert und wie universell und solidarisch sie noch wäre. Auf der Hand würde liegen, dass die Versorgung teurer würde, wenn ihr Angebot ausgeweitet wird. Aber wie Pit Buchler sagt, gibt es Schätzungen, denen zufolge bestimmte Radiologie-Analysen außerhalb der Kliniken deutlich kosteneffizienter erbracht werden könnten. Was theoretisch dazu führen könnte, dass für beide einheitliche Tarife festgelegt werden; diskutiert wird dieses Szenario offenbar schon.

Wenngleich es sich abstrakt anhört, wären Einheitstarife für Spitäler wie Ärztezentren für dieselben Leistungen ein weiterer Paradigmenwechsel im System: Nachdem der Privatlaborverband durchgesetzt hatte, dass für ambulante Analysen in Kliniklabors dieselben Tarife gelten müssen wie in Privatlabors, gerieten die Kliniken unter Kostendruck. Unter anderem deshalb verkauften die Hôpitaux Schuman 2015 ihre ambulanten Analysen an die Laboratoires Réunis. Einheitstarife für Arztleistungen am Patienten hätten noch weitreichendere Auswirkungen. Es müsste generell full-cost gerechnet werden, in Ärztezentren wie in Kliniken. Dann zöge im Luxemburger Gesundheitswesen das Prinzip Preis pro Leistung ein. Da Ärztezentren als kleine Kliniken, die sich kaum regulieren lassen, überdies die staatliche Spitalplanung untergraben würden, könnte der Gesundheitssektor schnell sehr frei und marktrational werden. Wie man in einem solchen Umfeld gewitzt agiert, das wissen deutsche Klinikkonzerne noch besser als die AMMD und die Business-orientierten Schuman-Krankenhäuser.

Peter Feist
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