Der Spitzenkandidat der CSV dürfte auch der nächste Regierungs- chef werden. Nun wird entschieden, für welche Politik er stehen soll

Projekt Premier 2018

d'Lëtzebuerger Land du 25.03.2016

Die Kunst heißt, vorauszudenken. Schon heute damit zu rechnen, was in zwei oder drei Jahren sein wird. Zum Beispiel, wie es in Luxemburg nach den nächsten Wahlen weitergeht. Wenn die Legislaturperiode der liberalen Koalition zu Ende sein wird, mit allem, was sie im Land verändert haben wird, und was sie beim Alten ließ. Auch nach einer Legislaturperiode, die mit einer Kopernikanischen Wende der Finanzpolitik anfangen sollte und den Direktor der Handelskammer nun zum Stoßseufzer bewegte: „Réforme fiscale – Social: oui! Attractivité: non!“ Vorauszudenken, wer nach den nächsten Wahlen den Kurs bestimmt, und anderen zuvorzukommen.

So kann man davon ausgehen, dass es nicht noch einmal gelingen wird, die CSV schachmatt zu setzen. Denn auch 2018 wird sie die stärkste Partei bleiben und ihr Spitzenkandidat wird dann vom Staatsoberhaupt beauftragt, die nächste Regierung zu bilden. Wenn DP, LSAP und Grüne auch nur einen Sitz verlieren, wird sowieso keine Mehrheit ohne CSV möglich sein.

Weil die einzige systemrelevante Frage beim Referendum vor einem Jahr, jene zur Mandatsbegrenzung von CSV-Premierministern, scheiterte, dürfte alles darauf hinauslaufen, dass der künftige Spitzenkandidat der CSV der nächste Regierungschef sein wird. Ohne politischen Skandal im letzten Augenblick wird der CSV-Spitzenkandidat 2018 fast zur Macht getragen werden. Bleibt die Frage, wer die vielversprechende Rolle erfüllen soll und für welche Politik er stehen wird.

Während der letzten 100 Jahre wurde das Amt des Premierministers von einem Amtsinhaber zum nächsten vererbt, die Wähler durften die Entscheidung des abtretenden CSV-Patriarchen dann ratifizieren. Pierre Dupong hatte Pierre Werner ausgewählt, der 1953 nach Pierre Dupongs Tod Minister und 1959 Premier wurde. ­Pierre Werner verlor zwar 1974 die Wahlen, wurde aber 1979 wieder Spitzenkandidat, ehe er 1984 Jacques Santer zu seinem Nachfolger bestimmte. Als Jacques Santer 1995 Kommissionspräsident in Brüssel wurde, hatte er schon Jean-Claude Juncker als Nachfolger vorgesehen. Selten störten äußere Umstände, wie 1926, das dynastische Prinzip.

Doch diesmal ist die CSV in einer besonderen Lage: Als Jean-Claude Juncker 2013 stürzte, stand kein Thronfolger bereit. Zwar hatte er jahrelang Luc Frieden gefördert, aber dann befürchtet, dass diesem das politische Geschick fehlte, um eine Volkspartei oder gar ein Volk zu führen. Außerdem hatte Jean-Claude Juncker sich für unersetzlich gehalten und sowieso die Lust an der Landespolitik verloren.

Der gemäßigte Konservative So musste die CSV vor drei Monaten ihre Statuten ändern, um erstmals eine Prozedur zur Bestimmung des Spitzenkandidaten festzulegen. Durch sie wurde Parteipräsident Marc Spautz, der auf eine eigene Spitzenkandidatur verzichtete, zum Königsmacher. Denn Artikel 76 der Statuten bestimmt: „Der Parteipräsident oder einer der Vizepräsidenten berichtet dem Nationalrat über die Sondierungsgespräche und macht dem Natio­nalrat einen Vorschlag. Der Nationalrat schlägt dem Konvent den Kandidaten zur nationalen Spitzenkandidatur vor.“ Der Konvent, wo laut Artikel 31„[d]er Nationalkongress und die vier Bezirkskongresse“ tagen, ratifiziert dann die Wahl.

Nach dem Machtverlust hatte sich der Parteiapparat 2013 auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt, um die von den politischen Gegnern prophezeiten Zerreißproben, Schuldzuweisungen und Machtkämpfe zu vermeiden: auf den ehemaligen Nachhaltigkeits- und Infrastrukturminister ­Claude Wiseler. Denn der diskrete Studienrat aus dem Zentrumsbezirk war keinem Parteiflügel von Wirtschaftsliberalen über LCGB-Mitgliedern bis zu klerikalen Ewiggestrigen zuzurechnen und konnte so die CSV zusammenhalten. Er wurde in der Öffentlichkeit weder mit den Skandalen von Jean-Claude Junckers Fin de règne, noch mit den Rabauken und Scharfmachern wie Michel Wolter und Marc Spautz identifiziert und konnte so der CSV eine neue Respektabilität verschaffen. Er war der gemäßigte Konservative, der als solcher die so lange erfolgreiche Linie der gemäßigt konservativen Partei verkörperte. Er war der brave Parteisoldat, der sich mit dem Fantasietitel des beigeordneten Fraktionspräsidenten zufrieden gab, als Jean-Claude Juncker bis zum letzten Tag an seinen Diäten festhielt und andere sich für die Oppositionsarbeit zu schade waren oder auf das falsche Pferd gesetzt hatten. Im monatelangen Machtvakuum suchte Claude Wiseler Parteisektio­nen auf, um den verstörten Mitgliedern tröstliche Worte zu spenden.

Der Finanzplatzminister Claude Wiseler hängt der Vorwurf des Zauderers an, aber seit Quintus Fabius Maximus Verrucosus ist das manchmal auch eine erfolgreiche Taktik. Doch die Vorstellung, dass der nächste Premier ein zögerlicher Staatsbeamter wie aus einer anderen Zeit sein soll, der sich kaum für Wirtschaft interessiert und selbst nach dem Tod der Tripartite noch immer den Konsens sucht, statt tatkräftig die von DP, LSAP und Grünen versprochene Kopernikanische Wende der Finanz- und Sozialpolitik zu vollenden, sorgt für Unruhe. Deshalb erfährt der ehemalige Haushalts-, Finanz-, Justiz- und Verteidigungsminister Luc Frieden nun jede Unterstützung bei seiner Rückkehr in die nationale Politik. Er hatte sich Mitte 2014 daraus verabschiedet, weil er sich zum Regieren geboren fühlte und nicht die Oppositionsbank im Parlament drücken wollte. Außerdem war sein Ruf durch seine Rolle bei den Ermittlungen gegen die Bommeleeërten und bei der katarischen Übernahme von Cargolux so beschädigt, dass das Parlament um ein Haar seinen Rücktritt gefordert hatte. Das verhinderte zwar nicht, dass er bei den Kammerwahlen 2013 im Zentrumsbezirk 29 441 Stimmen erhielt gegenüber 26 590 Stimmen für Claude Wiseler. Doch ist Luc Frieden nicht unbedingt der Kandidat, der die CSV im industriellen Südbezirk beliebt macht.

Denn Luc Frieden hatte sich stets als Finanzplatzminister verstanden. Als Haushaltsminister hatte er nicht immer erfolgreich Austeritätspolitik durchzusetzen versucht und nach Massenausweisungen von Asylsuchenden hatte das befreundete Luxemburger Wort ihm am 26. November 1999 „[e]in kaltes Herz“ bescheinigt in Anspielung auf Wilhelm Hauffs Märchen vom Köhlerjungen Peter, der sich für 100 000 Taler vom Flößer Holländer-Michel das Herz durch einen kalten Marmorstein ersetzen ließ.

Mit einem von Deutsche-Bank-Managern verfassten Buch Europa 5.0: Ein Geschäftsmodell für unseren Kontinent als Bewerbungsschreiben unter dem Arm, genießt Luc Frieden nun die Unterstützung einflussreicher Freunde, die helfen, seine Rückkehr in die nationale Politik zu organisieren, so wie sie oder andere 2013 mit allerlei Vereinen Walhkampf für die DP gemacht hatten. Ende Januar wurde er zum Verwaltungsratsvorsitzenden des Sankt-Paulus-Verlags ernannt, dessen Luxemburger Wort spätestens im Wahlkampf seine Sympathie für die CSV entdeckt. Ende April wird er zum Verwaltungsratsvorsitzenden der Banque internationale gewählt.

Luc Frieden, der derzeit kein politisches Mandat innehat und nicht einmal mehr dem Nationalvorstand der CSV angehört, hütete sich bisher, sein Interesse an der Spitzenkandidatur der CSV öffentlich anzumelden. Es ist eher seine Art, solche Fragen im kleinen Kreis zu regeln, und er möchte nicht als Verlierer dastehen, wenn die Wahl tatschlich auf einen Konkurrenten fällt.

Die Roaming-Queen Ähnlich verhält es sich auch mit der Europaabgeordneten Viviane Reding. Die langährige Europäische Kommissarin, die von Jean-Claude Juncker aus der nationalen Politik ferngehalten wurde, meldet öffentlich keine Ambitionen an. Sie stellt sich vielmehr als diejenige dar, die nach Jean-Claude Junckers Abgang von ihrer Partei eingeladen wurde, nach Hause zu kommen und noch vor den nächsten Europawahlen bei den Kammerwahlen „eine Hand mit anzupacken“.

Viviane Reding ist weniger einem Parteiflügel zuzurechnen, als dass sie einen zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen darstellt. Mit einem demagogischen Talent, das einzigartig in der nationalen Politik ist, verstünde die ehemalige Luxemburger-Wort-Redakteurin und Abgeordnete es als resolute Premierministerin, wie bei der Senkung der Roaming-Gebühren in der Euro­päischen Union, eine wirtschaftsliberale Politik mit dem Schutzbedürfnis der „kleinen Leute“ zu verbinden.

Doch wie Luc Frieden hütet Viviane Reding sich, sich öffentlich um die Spitzenkandidatur zu be­werben. Sie würde lieber als rettende Dritte erscheinen, wenn die CSV sich nicht zwischen Claude Wiseler und Luc Frieden entscheiden kann. Immerhin war die populäre Politikerin die große Favoritin bei den Europawahlen 2014 und erhielt doppelt so viele Stimmen wie der Zweitgewählte der CSV.

So hat der Kampf um die Spitzenkandidatur und damit wohl um den nächsten Regierungsvorsitz bereits begonnen, auch wenn er als Streit um Prozeduren und Termine getarnt ist: Anfänglich sollte sich die Partei zuerst um die Gemeindewahlen und dann um die Nationalwahlen kümmern. Doch als Luc Frieden etwas zu früh nach Hause kam, meldete Claude Wiseler gar nicht mehr zögerlich seine Ansprüche öffentlich an und verlangte, dass der Spitzenkandidat so schnell wie möglich, auf jeden Fall noch dieses Jahr bestimmt werden soll. Durch einen schnellen Beschluss hoffte er, seinen Vorsprung auf Luc Frieden, ­Viviane Reding und vielleicht noch andere Bewerber ausnutzen zu können.

Außerdem kündigte Claude Wiseler an, dass er sich nächstes Jahr nicht auf ohnehin verlorenem Posten für das Bürgermeisteramt in der Hauptstadt bewerben will. Doch Parteipräsident und Königsmacher Marc Spautz will die Ernennung des Spitzenkandidaten nicht überstürzen, auch wenn die Partei sich dadurch zur Freude der Regierung um so länger mit sich selbst zu beschäftigen droht. Zudem meinte er auf dem Nationalkongress am Samstag: „Für mich ist es deshalb auch logisch und normal, dass jeder Mandatsträger in der CSV mit in diese Gemeindewahlen geht.[... D]as heißt nicht automatisch, dass er Spitzenkandidaten sein muss.“ Was dann auch heißen würde, dass Luc Frieden sich erst einmal in den Gemeinderat von Contern und Viviane Reding in denjenigen von Esch-Alzette oder Luxemburg wählen lassen müsste.

Romain Hilgert
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