Weshalb die Länge der Legislaturperioden kein Thema mehr ist

Zwischen Rechenschaftspflicht und Dauerwahlkampf

d'Lëtzebuerger Land du 31.01.2014

Bei der derzeitigen Diskussion über das Ende der Legislaturperiode steht die Dauer der Legislaturperioden nicht zur Debatte. Seit mehr als einem halben Jahrhundert beträgt die Mandatsdauer eines Abgeordneten fünf Jahre. Die belgische Abgeordnetenkammer wird dagegen für vier Jahre gewählt, so auch die Zweite Kammer der niederländischen Generalstaaten, der deutsche Bundestag, die portugiesische Versammlung der Republik und der spanische Abgeordnetenkongress. Für fünf Jahre dagegen werden die französische Nationalversammlung, das britische und das irische Unterhaus, der österreichische Nationalrat, die Schweizer Bundesversammlung, die italienische Abgeordnetenkammer und das Europäische Parlament gewählt. Das Mandat im US-Repräsentantenhaus dauert dagegen nur zwei Jahre.

Mehr als ein Jahrhundert lang betrug die Mandatsdauer sechs Jahre. Artikel 13 der ersten Landesverfassung von 1841 schrieb vor: „Les Membres des Etats, ainsi que les Electeurs sont nommés pour six ans. Ils seront renouvelés par moitié tous les trois ans, d’après l’ordre des séries qui est déterminé par le Règlement électoral de ce jour. Les Membres sortans sont rééligibles.“

Bis zum Ersten Weltkrieg legte Artikel 162 des Wahlgesetzes von 1879 das Datum der Wahlen fest: „La sortie ordinaire des députés a lieu le deuxième mardi du mois de juin.“ Das galt für das Zensuswahlrecht, unter dem nur die wohlhabenderen Steuerzahler das Wahlrecht hatten. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Arbeiter und Frauen verlegte Artikel 64 des Wahlgesetzes von 1919 den Wahltag, um die neuen lohnabhängingen Wähler nicht von der Arbeit abzuhalten: „La réunion ordinaire des collèges électoraux pour pourvoir au remplacement des députés sortants a lieu, de plein droit, de trois en trois ans, le premier dimanche du mois de juin, conformément aux art. 196 et suivants de la présente loi. Si cette date coïncide avec le dimanche de la Pentecôte les élections auront lieu le dernier dimanche du mois de mai. En cas de dissolution de la Chambre, il est procédé à de nouvelles élections dans les trois mois au plus tard de la dissolution.“ Aber es blieb in Artikel 196 bei dem Prinzip der Teilwahlen und der Dauer der Legislaturperiode: „Les députés sont élus pour six ans. Ils sont renouvelés par moitié tous les trois ans, d’après l'ordre de sorties déterminé par la présente loi. En cas de dissolution, la Chambre est renouvelée intégralement.“

Bis zur Verfassungsrevision 1956 betrug die Mandatsdauer der Abgeordneten sechs Jahre, alle drei Jahre wurde abwechselnd im Süd- und im Ostbezirk beziehungsweise im Zentrums- und im Nordbezirk gewählt, damit ein Stimmungswandel der öffentlichen Meinung nicht sofort zu Änderungen der politischen Verhältnisse führte. Als mit der Abschaffung dieser Teilwahlen alle drei Jahre die Mandatsdauer auf fünf Jahre verkürzt wurde, erklärte dies Berichterstatter Adrien van Kauvenbergh (LSAP) mit der Feststellung: „Votre commission elle aussi estime que la représentation nationale doit refléter le plus fidèlement possible l’état de l’opinion publique et les voeux du pays et qu’à cette fin un renouvellement intégraI de la Chambre des Députés s’impose au moins tous les cinq ans.“

Wenn van Kauvenbergh von mindestens alle fünf Jahre sprach, dann weil es schon immer auf der Linken Stimmen gab, welche die Mandatsdauer weiter verkürzen wollten. Schon bei der Verabschiedung der ersten demokratischen Verfassung 1848 hatte der damals liberale Abgeordnete ­Mathias Hardt einen von Lucien Richard, Jean Wilhelm, Clément Hemmer und Jean-Baptiste-Henri Funck mitunterzeichneten Antrag eingebracht, um die Mandatsdauer der Abgeordneten von sechs auf vier Jahre zu verkürzen. „C’est un principe constitu­tionnel“, so Hardt laut Courrier du grand-duché du Luxembourg vom 14.6.1848, „que les Parlements ne doivent pas être trop longs. Chaque renouvellement amène à la Chambre de nouveaux éléments, et c’est un moyen de progrès.“

Genau hundert Jahre später, bei der Verfassungsrevision von 1948, galt es noch immer als ein Mittel des Fortschritts, die Mandatszeit der Abgeordneten zu verkürzen. Denn je kürzer die Legislaturperiode, um so größer der Einfluss der Wähler, da sie dann rascher auf die politischen Entscheidungen ihrer Gewählten reagieren können. Zu diesem Zweck hatten seinerzeit die Kommunisten und später die Grünen auch imperative Mandate verlangt.

Bei der Verfassungsrevision von 1948 hatten die LSAP und die Kommunistische Partei Änderungseinträge eingebracht, um das Prinzip der Teilwahlen abzuschaffen und in Artikel 56 der Verfassung festzuschreiben: „Les députés sont élus pour quatre ans.“. In ihrer Begründung schrieb die LSAP: „C’est que la majorité a peur d’une consultation fréquente de tout le pays qui seule pourtant pourrait donner une image nette de l’opinion publique. Le renouvellement périodique par moitié n’existe plus en Belgique ni dans aucun pays démocratique à l’heure actuelle. Le P.O.S.L. souligne encore une fois que la majorité fait tout pour escamoter la souveraineté populaire.“ Dem schloss sich sogar der Staatsrat an und schlug ebenfalls erfolglos vor, alle vier Jahre zu wählen.

Heute ist die Verkürzung der Legislaturdauer kein Thema mehr. Auch LSAP-Spitzenkandidat Etienne Schneider, der im Wahlkampf mit Vorschlägen wie der Beschränkung der Mandatsdauer von Regierungsmitgliedern und einer Obergrenze für die Zahl von Ministern für Aufmerksamkeit gesorgt hatte, machte sich nicht, wie seine sozialistischen Vorväter, für eine Verkürzung der Legislaturdauer stark.

Vielleicht weil heute Wahlen eher als lästige, aber notwendige Behinderung bei der Verwaltung der Staatsgeschäfte entlang wirtschaftlicher Sachzwänge angesehen werden. Wenn Demokratie als „Populismus“ abgetan und durch „Gouvernance“ genannte Herrschaftstechnik ersetzt werden soll, brauchen Technokraten möglichst lange Zeiträume, binnen derer sie frei von Rechenschaftspflicht gegenüber den Wählern regieren können, statt „Dauerwahlkampf“ genannte öffentliche Debatten zu provozieren.

Romain Hilgert
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