Jean-Marie Wirtgen, Direktor der Abteilung Berufsausbildung im Erziehungsministerium, über die Schwierigkeiten der Groß-Reform

„Wir sind auf gutem Weg“

d'Lëtzebuerger Land vom 23.03.2018

d’Land: Herr Wirtgen, auf keinem anderen Stuhl im Bildungsministerium gab es so viele Wechsel binnen weniger Jahre wie in der Berufsausbildung. Was hat Sie motiviert, den Job anzunehmen?

Jean-Marie Wirtgen: Nach 18 Jahren in der Schulleitung des Lycée technique de Bonnevoie war ich bereit, eine neue Herausforderung anzugehen. Pädagogik und Schul- respektive Qualitätsentwicklung waren mir stets ein Anliegen, als ehemaliger Direktor des LTB verfügte ich zudem über reichlich Erfahrung in der Berufsausbildung und kenne die Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf zu weiteren Anpassungen vor, der in die richtige Richtung geht, auch weil mein Vorgänger gute Vorarbeit geleistet hat.

Die Reform der Berufsausbildung geht zurück auf das Jahr 2008. Bald schon tauchten massive Probleme auf, etwa bei den Cours de rattrapage, die Hunderte Berufsschüler betrafen, die sich im neuen, modular aufgebauten System nicht zurechtfanden.

Die Situation hat sich seit Inkrafttreten des Reglements vom August 2016 deutlich verbessert. Inzwischen wissen unsere Berufsschülerinnen und -schüler dank der wieder eingeführten Versetzung am Ende eines jeden Schuljahres sowie des Bilan intermédiaire besser, wie viele Module sie bestehen müssen, um weiterzukommen. Es gibt klare Richtlinien. Seitdem hat sich auch die Zahl der Wiederholungskurse deutlich verringert. Die Verlängerung der zulässigen Ausbildungszeit hat ebenfalls Entlastung gebracht.

Eine der geplanten Neuerungen ist die Bewertung. Es soll wieder nach Punkten benotet werden. Ist das das Aus des Kompetenzansatzes?

Nein, die Kompetenzorientierung macht gerade in der Berufsausbildung Sinn, in der es um die Anwendung von Wissen und Techniken geht. Richtig ist, dass sowohl Eltern als auch Schüler Schwierigkeiten hatten und haben, die Benotung rein auf Basis von Kompetenzen nachzuvollziehen: Im aktuellen System gibt es nur bestanden oder nicht bestanden. Künftig soll jede Kompetenz bewertet werden, wobei unterschiedliche Fertigkeiten, je nach Stellenwert in der Ausbildung, unterschiedlich stark gewichtet werden. Durch die Kombination aus Benotung und Kompetenzevaluation wird es für alle transparenter.

Zur Bewertung gehört der kompetenzorientierte Unterricht. Haben sich die Berufsschullehrer inzwischen darauf umgestellt? Anfänglich gab es ja Kritik.

Ob unser Berufsschulunterricht überall exklusiv kompetenzbasiert erfolgt, kann ich so pauschal nicht beantworten. Die Idee war, Theorie und Praxis zu verknüpfen, und ich denke, dass das in der betrieblichen Lehre gut klappt, ebenso in den schulischen Werkstätten. Es bestehen überdies Überlegungen, kompetenzbasierte Weiterbildungen zusammen mit dem Weiterbildungsbildungsinstitut Ifen und mit den Schweizer Experten des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung anzubieten.

Etliche Ausbildungen sind nicht auf dem neuesten Stand. Die Digitalisierung beispielsweise kommt in vielen Lehrplänen deutlich zu kurz.

Das ist richtig, wird aber zunehmend berücksichtigt. Wir werden über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren alle 120 Ausbildungen überprüfen. Dazu soll es einen Zukunftsworkshop geben, in dem sowohl Vertreter der Betriebe als auch ehemalige Lehrlinge, die heute mit beiden Beinen im Berufsleben stehen, berichten, was sie für ihren Beruf für wichtig halten. Die Schweizer sind spezialisiert in der Entwicklung von Ausbildungsprogrammen und zudem bilingual aufgestellt. In der Schweiz hat das Handwerk einen besonderen Stellenwert. Deshalb verspreche ich mir viel davon.

Der Certificat de capacité professionnelle war von Anfang an umstritten. Die Berufskammern warnten, Betriebe suchten spezialisiertes und nicht geringer qualifiziertes Personal, und sie fürchteten, der CCP stünde einer geplanten Aufwertung des Handwerks im Weg.

Wir haben eine Reihe Schüler, die von ihren schulischen Leistungen nicht oder zumindest nicht direkt geeignet sind für das Diplome d’aptitude professionnelle. Auch ihnen müssen wir eine Zukunft bieten. Es ist ein humanistisches Grundprinzip, Menschen die Möglichkeit zu geben, sich weiterzuentwickeln. Es ist deshalb wichtig, genügend Aufstiegsmöglichkeiten im Ausbildungssystem vorzusehen.

Tatsache ist aber, dass Betriebe die CCP nicht sehr nachfragen.

Da sind dann vielleicht Gemeinden und der Staat stärker gefragt.

Tatsache ist auch, dass viele Berufsschüler des Technicien die vorbereitenden Kurse für ein weiterführendes Studium nicht bestehen.

Am Prinzip der Vorbereitungskurse soll festgehalten werden. Allerdings war es bislang so, dass das Bestehen von Zusatzmodulen in Mathe und in einer Sprache während der letzten beiden Ausbildungsjahre Voraussetzung für ein weiterführendes Studium war. Künftig soll stärker ausbildungsspezifisch differenziert werden, denn wer in der Hotellerie arbeitet, braucht vielleicht eher Sprachen, wer dagegen eine technische Fachhochschule besuchen will, braucht wahrscheinlich mehr Mathematik.

Ein Dauerbrenner im gesamten Schulsystem und auch in der Berufsausbildung ist die Sprachensituation. Weil viele Berufsausbildungen in Deutsch angeboten werden, bleiben frankophone Schüler auf der Strecke.

Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe Berufe, die auf Französisch angeboten werden, damit Schüler der frankophonen Klassen ausreichend Angebot bei der Berufswahl haben. Was in Zukunft vielleicht stärker angeboten werden wird, sind englischsprachige Ausbildungsgänge. In der Privatschule Emile Metz werden bereits englischsprachige Kurse angeboten, die Europaschule in Differdingen plant ähnliches.

Die Misserfolgsquoten bei der Abschlussarbeit, dem Projet intégré final, sind teilweise erschreckend, insbesondere unter Heizungsinstallateuren und Mechanikern. Sind die Anforderungen zu hoch?

Auf allen Abschlussklassen ist seit kurzem die Zulassung zum Projet intégré final an das Bestehen des Bilan final gebunden. Dies fängt allmählich an zu greifen. Beim Installateur wurden zwei Ausbildungen, die zum Heizungstechniker und die zum Sanitärinstallateur, zusammengelegt. Die Lehrpläne haben sich dadurch verdichtet und viele Schüler scheitern an den gestiegenen Anforderungen. Jetzt wird überlegt, die Ausbildung um ein Jahr zu verlängern. Bei den Mechanikern stellt sich das Problem des Zugangs: Viele entscheiden sich für diese Ausbildung, doch nicht jeder ist dafür geeignet.

Unternehmerverbände kritisieren seit Jahren, Grund dafür, dass Lehrstellen unbesetzt blieben, sei, dass die Orientierung in den Schulen nicht funktioniere.

Der Prozess der Orientierung auf der Unterstufe ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass jeder Schüler den für ihn passenden Weg einschlägt. Mit dem Gesetz zur Réforme du lycée muss sich jede Schule ein Konzept geben, wie sie die berufliche/schulische Orientierung ihrer Schüler organisieren will. Und das bereits im unteren Zyklus. Das ist ein wichtiger Baustein. Es geht darum, früh herauszufinden, welche Interessen und Kompetenzen die Mädchen und Jungen haben. Die Maison de l’orientation soll ebenfalls für eine bessere Vernetzung der Akteure der beruflichen und schulischen Orientierung sorgen.

Ein Vorwurf, der häufig von der Wirtschaft kommt, ist der, die Schule bilde am Arbeitsmarkt vorbei aus.

Die Berufsausbildung basiert auf einer engen Partnerschaft zwischen dem Bildungsministerium und den Berufskammern, die in alle größeren Entscheidungsprozesse eingebunden sind. Um einen neuen Beruf einzuführen, braucht es zunächst eine Bestands- und Bedarfsanalyse. Dazu werden Unternehmen befragt. Wird ein ausreichender Bedarf bestätigt, erstellen die Équipes curriculaires, in denen auch die Berufskammern vertreten sind, den Lehrplan für das neue Berufsprofil. Die Ausbildung zum Logistiker und zum Mechatroniker ist beispielsweise in enger Zusammenarbeit mit den Berufskammern binnen zwei Jahren auf die Bedürfnisse der Arbeitswelt maßgeschneidert worden.

Wurde mit der Reform das geplante Ziel erreicht, das Bild des Handwerks zu verbessern?

Wir sind auf einem guten Weg. Das Bild des Handwerks hat aber weniger mit der Reform zu tun, sondern mit dem Blick der Gesellschaft auf handwerkliche Berufe. Wir müssen deutlicher machen, dass das Handwerk nicht nur gute Jobaussichten bietet, sondern auch Karriereperspektiven. Dass es vielfältiger ist als viele meinen. Wer seine Lehre erfolgreich abschließt, bekommt meistens binnen weniger Monate eine Anstellung. Ein Großteil der Auszubildenden wird von ihrem Ausbildungsbetrieb übernommen. Inzwischen gibt es spannende Initiativen seitens der Berufskammern und Verbände, um jungen Leuten Berufe nahezubringen. Die zunehmende Digitalisierung kann außerdem helfen, das Interesse von Jugendlichen am Handwerk zu steigern. Das Ministerium ist dabei, in Zusammenarbeit mit den Berufskammern, das Konzept eines dualen Brevet de technicien supérieur (BTS) zu erarbeiten. Dies dürfte ebenfalls zur Verbesserung des Bildes der Berufsausbildung in der Gesellschaft beitragen.

Ines Kurschat
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